Wenn die Stasi ein Gesicht bekommt

Annekatrin Hendel im Gespräch mit Joachim Scholl · 20.10.2011
Es gibt viele Filme über die Opfer der Stasi, aber zu wenige über die Täter - sagt die Filmemacherin Annekatrin Hendel. Mit Paul Gratzik hat sie einen "Unverbesserlichen" erwischt, einen der "gute Gründe" gehabt haben will. Trotzdem hat sich Gratzik bereits 1981 als Stasi-Spitzel geoutet.
"Der größte Feind im ganzen Land, das ist und bleibt der Denunziant. Klar? Und dieses Wort ist nie aus mir rausgekommen, es hat immer genagt. Ich hatte gute Gründe, diese Arbeit zu machen. Ich hab viel zu wenig Leute angeschissen – bist du jetzt zufrieden? Ich hab kein Gewissen und ich habe keine Moral – jedenfalls nicht eure! Verflucht noch mal, warum lass ich mich bloß so hinreißen?"

Joachim Scholl: Eine Szene aus dem Film "Vaterlandsverräter", der heute in unsere Kinos kommt. Zusammen in einem Boot sitzen der Schriftsteller und frühere Stasispitzel Paul Gratzik und die Regisseurin, die Autorin, die Filmemacherin Annekatrin Hendel. Sie ist jetzt im Studio. Willkommen im "Radiofeuilleton", Frau Hendel!

Annekatrin Hendel: Freut mich sehr!

Scholl: Das war schon mal eine besondere Bootsfahrt, oder?

Hendel: Ja, war sehr besonders. Allerdings, alles, was ich mit Paul Gratzik unternommen habe, ist besonders gewesen, eben auch die Bootsfahrt.

Scholl: War das typisch für die Gespräche und die Auseinandersetzung mit Paul Gratzik so, er immer auf Krawall gebürstet?

Hendel: Typisch für die Gespräche ist, dass er immer auf Krawall gebürstet ist einerseits und dann auch wieder ganz ruhig andererseits, also es ist immer ein Auf und Ab, immer. Und im Schnitt habe ich dann mich mal für das Auf entschieden, aber eigentlich ist er immer so.

Scholl: Ihr Film, Annekatrin Hendel, steht derzeit in mehrfacher Hinsicht in einem interessanten Kontext. Etliche aktuelle Romane beschäftigen sich mit der Geschichte der DDR, einer davon hat gerade den Deutschen Buchpreis gewonnen. Politisch wird über die Birthlerbehörde immer wieder und immer neu diskutiert, jetzt über belastete Mitarbeiter, wo man die denn arbeiten lassen darf. Und jetzt kommt also die wundersame Geschichte des Paul Gratzik ins Kino – ein Schriftsteller, der 20 Jahre lang für die Stasi gespitzelt hat, von 1962 bis 81, sich dann geoutet hat bei Bekannten, Freunden, die Arbeit niedergelegt hat, dann selbst überwacht wurde. Wofür steht dieser Mann Ihrer Ansicht nach, was macht gerade ihn für Sie so tauglich, von der DDR zu erzählen?

Hendel: Also ich wollte ja nicht unbedingt jetzt von der DDR erzählen, sondern mich hat eben gerade diese Figur, diese Person beschäftigt. Er ist ein Spion gewesen, er ist eine sehr widersprüchliche Figur. Es geht für mich in dem Film weit über DDR-Geschichte hinaus. Der Mann ist also 1935 geboren, hat vieles mitgenommen aus dieser Kriegszeit, und er lebt ja bis heute, und insofern ist die DDR, sind das die 40 Jahre, die spielen da natürlich eine Rolle, und in der Zeit war er bei der Stasi. Mich hat nicht unbedingt nur die DDR-Geschichte interessiert, sondern was sehen wir von heute aus oder wie schauen wir von heute aus auf so eine Person, auf so einen Täter. Und ich habe so einen Film vermisst und hab ihn jetzt einfach selber gemacht. Und ich wollte gerne das Absurde und das Besondere daran zeigen, aber auch das Universelle.

Scholl: Der große deutsche weltberühmte Stasifilm ist "Das Leben der anderen". Sie haben mal gesagt, das reicht mir nicht – war das mit auch ein Grund für Ihren Film, der Gedanke, dass da so noch wichtige Facetten fehlen, wenn von dieser Thematik, dieser Zeit von Menschen in solcherlei Verstrickungen gesprochen wird?

Hendel: Na, überhaupt in der Betrachtung dieser Zeit und dieser Stasimenschen, das sind ja Menschen, da fehlt mir eben das Menschliche daran, und die Täter sind ja auch Menschen. Und natürlich zeigt "Das Leben der anderen" einen Menschen dort, aber das ist eben eine kleine graue Maus, das ist das typische Klischee eines Stasimannes. Aber in meiner Wahrnehmung – und ich war sehr jung in den 80er-Jahren – waren gerade diese IMs, die in der Kultur tätig waren, äußerst charismatische Personen. Da gibt es viele in der Literatur, in der Musikszene, und Paul Gratzik gehörte eben dazu und ist alles andere als unauffällig und grau, sondern ein ganz besonderer Typ. Da gab es mehrere, aber ich habe mich für Paul Gratzik entschieden, ihn zu porträtieren, unter anderem auch weil er nicht nur mit der Stasi gearbeitet hat, sondern eben auch ’81 entschieden hat, von sich aus das eben nicht mehr zu tun.

Scholl: Wann sind Sie ihm eigentlich begegnet? Er ist ja nun nicht so eine Berühmtheit.

Hendel: Er war sehr berühmt in einer Zeit, in der ich das noch nicht mitbekommen habe, und ich hab ihn 1988 kennengelernt, da war er schon nicht mehr berühmt, aber noch zu tiefsten Ostzeiten, und er ist relativ schnell mit der Sprache rausgerückt, dass er bei der Stasi war, und das fand ich ungeheuerlich, weil das hat niemand sonst gemacht.

Scholl: Wie stellt er sich denn heute zu seiner Tätigkeit? Also wir haben ihn jetzt vorhin gerade gehört, also in einer unglaublichen Kratzbürstigkeit – "meine Moral ist nicht eure Moral" oder "ich bereue nichts" –, oder wie stellt er sich selber seiner Vergangenheit? Also es gibt ja auch Episoden in dieser Tätigkeit, die so weit ging, dass eine Geliebte von ihm, eine Opernsängerin, bespitzelt wurde.

Hendel: Die wurde nicht von ihm bespitzelt, sondern von einem anderen IM, und das zeigt der Film, der zeigt ganz große Absurditäten. Die Opernsängerin sagt dann, Inzest der Stasi. Ich will neugierig machen, sich den Film anzusehen, deshalb werde ich das jetzt nicht verraten, was Sie mich gefragt haben, aber es ist wirklich absolut sehenswert. Und er stellt sich dem, dieser Mann stellt sich meinen Fragen und er stellt sich den Fragen, die man auch hat. Dass er das nicht immer so macht, wie wir uns das vielleicht wünschen, das steht auf einem anderen Blatt, aber für mich war das gerade der Reiz, dass er das so gemacht hat, wie er das gemacht hat.

Scholl: Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit Annekatrin Hendel. Sie hat den Film "Vaterlandsverräter" gedreht, der heute in unseren Kinos anläuft. Sie hatten auch Einsicht in die Täter- und Opferakten – gab es da Überraschungen für Sie oder hat das alles zu diesem Mann auch gepasst?

Hendel: Für mich war es das erste Mal, dass ich recherchiert habe in der Bundesbehörde für Stasiunterlagen, und die größte Überraschung für mich war, dass mir das so unangenehm war – dort zu sitzen und mir Akten anzuschauen über Menschen, die Opfer waren und für mich auch bis heute sind, wenn ich mir das heute noch ansehen kann. Ich darf Sachen lesen, die mich bis heute nichts angehen – das war mir die größte Überraschung, dass es so unangenehm ist. Was ich da gefunden habe, wie verstrickt und verquickt alles war, das war auch sehr überraschend und ist so absurd, und ein paar Sachen wird man davon im Film sehen.

Scholl: Sie haben etliche Zeitzeugen, Bekannte von Paul Gratzik, Freunde und Verwandte gesprochen, auch den Führungsoffizier, und das muss eine ganz besondere Figur sein, der da völlig cool überhaupt keinen Gedanken an Reue hat und dann noch völlig überzeugt ist von der Zulässigkeit und Rechtmäßigkeit seines Tuns.

Hendel: Ja, das ist er, also so kann man es sagen. Er ist da ganz klar … Er ist zur Premiere zur Berlinale nicht gekommen, weil er nicht konnte, aber er wäre gekommen, wenn seine Frau nicht krank geworden wäre, und er hat mir gesagt: Ich steh dazu! Er kommt aus Sachsen.

Scholl: Und wie ging es denn Ihnen in solchen Gesprächen? Hat Sie das auch auf Abstand gebracht oder hat Sie das gegen die Leute auch aufgebracht? Ich meine, man kann vielleicht nicht immer nur so den ganz neutralen Blick anwenden, man hat ja auch ein Gefühl.

Hendel: Na, ich bin ja sowieso ganz subjektiv darangegangen, also vollkommen ohne neutralen Blick. Den Abstand habe ich ja, ich hab ja komplett den Abstand, den brauche ich. Ich musste mir die Nähe erkämpfen, und das war hart genug.

Scholl: Paul Gratzik lebt heute wie damals so als eine Art kauziger Einsiedel auf einem Bauernhof, nach wie vor hält er aber auch an der sozialistischen Utopie fest. Wie kommt er heute mit dem Leben klar in dieser Bundesrepublik?

Hendel: Das zeigt eigentlich der Film auch sehr gut, glaube ich. Ich denke, er kommt auf seine Weise gut damit klar, das hat aber nichts damit zu tun, dass ich mir das vorstellen kann. Ich kann mir so ein Leben, was er führt, nicht für mich vorstellen, aber für ihn ist das … Er lebt unglaublich archaisch, spartanisch, obwohl er ein sehr großer Genussmensch ist, und in dieser Kombination ist es schon sehr erstaunlich. Als wir gedreht haben, bei 20 Grad minus außen, war es eben um die null Grad bei ihm innen, das ist schon, glaube ich, nicht ganz einfach, denke ich, aber er ist irgendwie daran gewöhnt.

Scholl: Das heißt, Sie haben gebibbert und er hat gesagt, hab dich nicht so.

Hendel: Ich hatte mich warm angezogen, weil ich kannte ja die Situation.

Scholl: Sie sagten gerade, Sie sind ganz subjektiv an diesen Film gegangen, Sie enthalten sich aber trotzdem jeglicher Moral. Also es gibt keinen Zeigefinger, sondern ist eigentlich auch klassisch dokumentarisch, zu zeigen, was ist, und einen Menschen zu porträtieren, wie er sich gibt. Man könnte ja skeptisch sagen, na, wird denn da nicht dem Falschen eine Art filmisches Denkmal gesetzt? Also ein Stasiopfer wird diesen Film ganz anders sehen.

Hendel: Finde ich doch interessant. Also es gibt ja ganz tolle Filme über die Opfer und über diese schlimmen Dinge, die da passiert sind, aber mir hat eben so ein Film gefehlt. Und ich bin ja nicht der Meinung, dass diesen Film jetzt alle feiern sollen und müssen, sie sollen ihn sich nur ansehen. Und ich war ja auf vielen Festivals jetzt unterwegs mit diesem Film, es gab viele Filmgespräche und es war immer Remmidemmi im Zuschauerraum, und das ist doch das Beste, was man mit einem Film bewirken kann und muss. Und ich hab dabei gemerkt, dass das Thema überhaupt nicht aus ist.

Scholl: Was hat Paul Gratzik selbst zu diesem Film, über ihn und sein Leben und sein Schicksal gesagt?

Hendel: Er war der Erste, dem ich den Film gezeigt habe, mit einem Laptop da in seiner Höhle, wie er sagt, und er hat gesagt als Erstes, du hast mich nicht verraten, und als Zweites, Anne, du hast mein Leben verfilmt. Und natürlich ist es nicht sein Leben, was da gezeigt wird, es ist meine Sicht, aber er kommt damit klar, obwohl es nicht … ich finde eben nicht, dass ich nicht moralisiere, sondern ich moralisiere schon in dem Film und zeige, denke ich, schon, was ist der Preis für das Tun. Und insofern steht das schon dahinter, also im Kontext ist es schon zu spüren, wie ich das sehe.

Scholl: Der Film "Vaterlandsverräter" von Annekatrin Hendel, heute kommt er in die deutschen Kinos. Frau Hendel, herzlichen Dank für Ihren Besuch!

Hendel: Danke schön, dass ich hier sein durfte!


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.