Wenn der Wahlzettel leer bleibt

Rezensiert von Uwe Stolzmann · 11.04.2006
Bei einer Parlamentswahl irgendwo in Europa bleiben 75 Prozent aller Stimmzettel unbeschriftet. Als Reaktion auf diese Wahlverweigerung lässt die Regierung die Wahl wiederholen, diesmal sind es sogar 80 Prozent blanke Zettel. Politiker sinnen auf Rache an denen, die ihr verbrieftes Recht zu wörtlich nahmen. José Saramagos politische Parabel ist eine bitterböse Satire auf Macht und Politik in unserer Gesellschaft.
Irgendwo in Europa, in Sachsen-Anhalt oder Portugal, geschieht Ungeheuerliches: Die Bürger verweigern sich dem System. Bei den jüngsten Parlamentswahlen bleiben 75 Prozent aller Stimmzettel in der Hauptstadt unbeschriftet, blank und weiß. Eine Abfuhr an jene Form der Machtausübung, die von den Parteiführern aller Richtungen "Demokratie" genannt wird.

Die Parteien - rechts, Mitte, links - lassen die Wahl wiederholen. Diesmal bleiben gut achtzig Prozent der Stimmzettel leer. Die Regierung, irritiert, schickt ihren Geheimdienst, die rebellische Metropole auszuspionieren. Sie lässt 500 Bürger entführen und im Keller des Innenministeriums hochnotpeinlich verhören. Wen oder was haben Sie gewählt und warum? Keine Antwort. Die Minister sind ratlos, wie der Widerstand zu brechen sei, "außer man ließe all diese Leute foltern, was, wie wir alle wissen, nicht gern gesehen wird..."

Das System fühlt sich bedroht; es sinnt auf Strafe, Rache, Vergeltung. Politiker geißeln die Frechheit jener, die ihre verbrieften Rechte wörtlich nahmen, als "missbräuchliche legale Auslegung". Frevel sei die massenhafte Verweigerung, ein "bösartiger Tumor", vielleicht gar blanker Terrorismus und Ausdruck einer subversiven Bewegung. Was tut man gegen die Subversion? Man wirft sie nieder, erstickt, eliminiert sie.

Bei Nacht und Nebel verlässt die Regierung die Stadt, samt allen Behörden. Dann fahren Panzer auf, Drahtsperren wachsen, man erwägt den Bau einer Mauer - Belagerungszustand. Ein ganz oben geplanter Bombenanschlag auf die U-Bahn soll Unruhe provozieren, vielleicht einen Bürgerkrieg. Doch in der Stadt bleibt es ruhig. Am Ende wird die Regierung einen Profikiller schicken, um angebliche Verschwörer auszuschalten und die Bürger zurück zu zwingen auf den Tugendpfad der Demokratie...

José Saramago, Jahrgang 1922, ist ein Meister der politischen Parabel. In "Die Stadt der Blinden" entwarf der portugiesische Nobelpreisträger vor zehn Jahren bereits eine ähnlich düstere Utopie: Eine Seuche geht um in der namenlosen Stadt, eine "weiße Blindheit"; die Infizierten - erst wenige, dann immer mehr - werden auf Geheiß der Regierung weggesperrt. Die drohende nationale Katastrophe, so heißt es amtlich, berechtige zur "Notwehr": Soldaten schießen auf jeden, der sich der staatlichen Willkür widersetzt...

"Die Stadt der Sehenden" - der deutsche Titel signalisiert es - ist eine Fortsetzung des Romans von 1995. (Die Originaltitel verweisen noch stärker auf das Gleichnishafte beider Texte - erst ein "Versuch über die Blindheit", nun der "Versuch über die Hellsichtigkeit". In einem lichten Moment sagt ein Minister über den Aufstand der Bürger: "Ein gut organisierter Staat darf eine solche Schlacht nicht verlieren, das wäre das Ende der Welt." "Oder der Beginn einer neuen", erwidert trocken der Premier.) Wieder kleidet Saramago sein Misstrauen gegenüber den Segnungen westlicher Zivilisation in eine durchscheinende Allegorie, sagenhaft und beängstigend real wirkend, lehrreich, doch niemals schulmeisterlich. Und wieder macht die geradlinige, aber poetische Sprache, machen Bilderreichtum, philosophischer Anspruch und der mal leise, mal herbe Sarkasmus vieler Dialoge die Lektüre der bösen Geschichte zum Vergnügen.

Einige Protagonisten des ersten Teils, Figuren der Hoffnung, treten erneut auf, nur droht ihnen diesmal ein bitteres Schicksal. Überhaupt ist der Autor - im Stil gleichbleibend perfekt - in der Kritik von Macht und Gesellschaft noch schärfer geworden: "Eine unverrückbare Regel der Politik lautet, die Köpfe besser abzuschlagen, bevor sie zu denken anfangen, denn danach kann es bereits zu spät sein."

Was will uns José Saramago mit seinem jüngsten Buch sagen? Wie einfach die Mechanismen demokratischer Herrschaft sich verwandeln lassen in Werkzeuge der Repression? Dass die Kultur des Parlamentarismus nur dünner Firnis ist? Wie schnell unser Staat, ohne Strukturen zu verändern, zu dem werden kann, was wir doch am meisten fürchten und verabscheuen, ein totalitäres Regime? Dass auch wir Schuld tragen an den kleinen Untaten und den großen Lügen der Regierenden? Saramago hat keine Botschaften. Er hat nur Fragen.


José Saramago: Die Stadt der Sehenden
Aus dem Portugiesischen von Marianne Gareis
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2006.
384 S., 22,90 Euro.