Wenn Beobachter zu Akteuren werden

Manfred Protze im Gespräch mit Joachim Scholl · 14.08.2008
Im August 1988, als sich das <papaya:addon addon="d53447f5fcd08d70e2f9158d31e5db71" article="202371" text="Gladbecker Geiseldrama" alternative_text="Gladbecker Geiseldrama" /> ereignete, war Manfred Protze Reporter bei der DPA. Mit einem Taxi war er den Geiselnehmern auf der Spur. Er und viele Kollegen hätten die Gefährlichkeit der Situation unterschätzt, räumt er ein. Journalisten dürften nicht zu Akteuren werden - schon gar nicht in einer Situation, in der es um Leben und Tod ginge, meint Protze.
Joachim Scholl: Am Telefon begrüße ich jetzt Manfred Protze, Sprecher des Deutschen Presserates. Guten Morgen, Herr Protze!

Manfred Protze: Guten Morgen!

Scholl: Sie haben damals jenen gekaperten Bus buchstäblich vor Augen gehabt. Als Reporter für die Deutsche Presseagentur in Oldenburg sind Sie damals mit dem Taxi nämlich hinterhergefahren. Erzählen Sie uns, wie es dazu kam.

Protze: Der Bus mit den Geiseln ist irgendwann am späten Abend aus Bremen Richtung Holland aufgebrochen und nach unserer internen Arbeitsteilung waren dann nicht mehr meine Kollegen in Bremen zuständig für die Beobachtung dieses Ereignisses und die Berichterstattung, sondern ich. Die erste Reaktion war, die Polizei anzurufen und zu fragen, ob dieser Bus tatsächlich unterwegs ist und auf welcher Autobahn und in welche Richtung. Die Polizei hat jede Auskunft abgelehnt. Sie hat eine Nachrichtensperre faktisch verhängt. Und dann wird jeder Journalist versuchen, Informationen auf anderem Wege zu beschaffen. Und meine Methode war, ich chartere ein Taxi, begebe mich in die Nähe des mutmaßlichen Fahrweges der Geiselnehmer und berichte dann, dass sie tatsächlich oder auch nicht unterwegs sind. Das ist für einen Nachrichtenredakteur einer Agentur eigentlich die Hauptaufgabe in dieser Situation. Es kam anders. Bevor ich mich auf einer Raststätte postieren konnte, um zu beobachten, ob dieser Bus da vorbeifährt, waren wir bereits hinter dem Bus auf der Autobahn und sind ihm dann gefolgt.

Scholl: Sie erzählen das so, als ob das völlig normal gewesen wäre, dass man in ein Taxi steigt und einem Bus mit Verbrechern hinterherfährt. War das so?

Protze: Ja. Das, denke ich, war normal, weil unser Job als Journalist ist, Ereignisse von öffentlicher Bedeutung zu beobachten. Das heißt, aus einer Distanz zu schauen, was ereignet sich und anschließend darüber zu berichten.

Scholl: Sie waren dann direkt hinter dem Bus, aber dann wurde es richtig ernst, nämlich dann fielen Schüsse auf das Taxi?

Protze: Ja. Es passierte etwas, was ich nicht im Kalkül hatte. Der Bus stoppte auf der Autobahn. Einer der Gangster stieg aus der vorderen Tür des Busses und feuerte mehrere Schüsse ab, die mich und den Taxifahrer Gott sei Dank nicht getroffen haben!

Scholl: Haben Sie sich da in dem Moment nicht vielleicht auch mal gefragt, meine Güte, was mache ich hier eigentlich?

Protze: In dem Moment, als die Schüsse fielen, gab es nur noch einen Schock. Da habe ich mich überhaupt nicht viel gefragt. Die Fragen sind alle sehr viel später entstanden. Und die haben mich auch sehr lange beschäftigt.

Scholl: Nun ist es bestimmt eine Situation, die man nie wieder vergisst. Wie geht es Ihnen denn heute, wenn Sie an diese Tage zurückdenken. Sie erzählen es gerade, Herr Protze, so, jeder Journalist, jeder Nachrichtenjournalist muss da berichten, muss da hin. Wir haben damals alle diese Bilder gesehen. Heute sehen wir sie wieder, die Rudel von Journalisten, und alles nickt jetzt betroffen mit dem Kopf und sagt, ei, ei, ei, das war aber eigentlich nicht gut. Sie schildern es, es war normal.

Protze: Ja, das ist eine Routine, die wir gelernt haben als Journalisten, dass wir beobachten. Was wir nicht gelernt haben, ist Risiken einzuschätzen, beispielsweise die Gewalthaltigkeit einer Szene. Das ist aber in erster Linie eine Frage dann auch des Selbstschutzes. Das ist eine Situation, in der befinden sich jeden Tag Hunderte von Journalisten in Krisen- und Kriegsgebieten. Die sind in einer vergleichbaren Situation. Sie beobachten an unserer Stelle das, was wir dann im Fernsehen, im Rundfunk und in den Zeitungen konsumieren und tun das unter erheblicher Gefährdung für sich selbst. Viele werden auch Opfer, weil sie sich nicht richtig darauf eingestellt haben. Und ich würde rückblickend sagen, genau das war ein entscheidender Mangel. Die meisten Journalisten, mich eingeschlossen, die dieses Ereignis beobachtet haben, hatten keinerlei Maßstab dafür, wie gefährlich die Situation tatsächlich war.

Scholl: Manfred Protze, Sprecher des Deutschen Presserats, im Gespräch mit Deutschlandradio Kultur. Er war live dabei bei der Verfolgung der Täter von Gladbeck. Ein WDR-Reporter, der damals auch mittenmang war, gab später eimal zu Protokoll wörtlich, ich zitiere: "Es war irgendwo Scheiße, aber es musste gemacht werden." Das geht so ein bisschen in die Richtung, was Sie auch sagten, Herr Protze. Aber Sie stellen jetzt auf die Gefahr ab, in die auch die Kollegen sich begaben. Umgekehrt, die öffentliche Meinung hat später reagiert auf die Unverantwortlichkeit, die darin bestand, diesen Verbrechern eine Stimme zu geben, sie zu interviewen, während sie ihre Opfer bedrohen. Jetzt sind Sie Sprecher des Deutschen Presserates, Herr Protze. Ich meine, gab es damals eigentlich irgendeine Reaktion?

Protze: Natürlich. Das, was ich vorhin geschildert habe, ist eine Seite des Vorgangs. Die hat mit Fragen des Selbstschutzes zu tun. Es gibt andere Seiten, die viel problematischer sind. Die eine Frage ist, dürfen Journalisten zum Akteur werden in einem solchen Geschehen. Das heißt, dürfen sie ihre Rolle als Beobachter verlassen und eingreifen. Aus unserer Sicht dürfen sie das nicht, weil sie im Zweifel als Amateure dort handeln, zum Beispiel bei Vermittlungsversuchen, die nicht mit der Polizei abgestimmt sind. Und wer als Amateur in einer Situation handelt, in der es um Leib und Leben geht, der geht ein hohes Risiko ein, für das er eigentlich gar keine Verantwortung übernehmen kann, denn daraus kann auch großes Unheil entstehen. Da haben einige Kollegen diese Grenze überschritten und sind zum Akteur geworden. Eine dritte Ebene der Kritik ist die Frage, darf man Verbrechern im Vollzug eines solchen Verbrechens die Gelegenheit für öffentliche Selbstdarstellung geben. Und auch hier würde ich sagen, da sind eindeutig Grenzen überschritten worden. Und Sie haben vorhin den Begriff Rudel verwendet. Da gibt es noch einen zweiten, der heißt Meute.

Scholl: Genau.

Protze: Ich denke, man muss da sehr vorsichtig sein, auch im Umgang mit sprachlichen Bildern. Das ist natürlich aus der Jagd entlehnt. Eine Meute, ein Rudel, das sind relativ hirnlose, gut dressierte Jäger, allerdings im Auftrag von Jägern. Das sind Tiere.

Scholl: Ja, aber halten zu Gnaden, wenn man die Bilder damals sieht, Herr Protze, dann hat man wirklich das Gefühl, dass hier eine hysterisierte Schar plötzlich einfach nur noch scharf ist auf den O-Ton, scharf auf das Interview. Und das ist eigentlich unappetitlich.

Protze: Ja, man kann das appetitlich finden oder unappetitlich. Es ist keine Geschmacksfrage.

Scholl: Nein, es ist keine Geschmacksfrage. Nein, es ist eine moralische Frage. Es ist eine ethische Frage, die eigentlich nicht akzeptabel ist, oder?

Protze: Das sehe ich anders. Wir haben in den Medien eine Arbeitsteiligkeit. Da ist das Ereignis, auf das wir uns nicht einrichten können, weil wir es nicht planen. Dieses Ereignis wird von anderen bestimmt, von den Verbrechern in dem Fall und von der Polizei. Wir sollen beobachten, das ist unser Job. Wir haben eigentlich nur eine Chance zu sammeln, Informationen zu sammeln, in Wort, Bild und Text, sie an unsere zentralen Redaktionen weiterzugeben. Und dort sitzen dann Kollegen, die entscheiden müssen, was der Öffentlichkeit zugemutet werden kann und was nicht. Die haben dann noch Zeit für ethische Abwägungen, die ich im Feld meistens nicht habe.

Scholl: Gut, aber ich meine, Sie auch als Vertreter und Sprecher des Deutschen Presserates sollten ja auf diese ethischen Standards wirklich pochen. Unter Ziffer 11 im Pressekodex des Deutschen Presserates heißt es zum Thema Sensationsberichterstattung: "Die Presse verzichtet auf eine ungemessen sensationelle Darstellung von Gewalt, Brutalität und Leid." Das ist doch mal eine Ansage.

Protze: Völlig klar. Die Frage ist, wenn man die Fakten so berichtet, wie sie sind, ist das immer schon eine unangemessen sensationelle Art der Darstellung? Ich bleibe dabei, nach dem Sammeln kommt das Sichten und Bewerten. Und da gibt es viele, die dort Entscheidungen getroffen haben, zum Beispiel ein Interview mit den Gangstern zu senden oder nicht. Das entscheidet nicht der Reporter vor Ort, sondern das wird in zeitlicher Distanz in einer Zentralredaktion entschieden.

Scholl: Das geht doch nicht nur um die Reporter, sondern es geht auch um die Redaktion.

Protze: Ich habe das nur jetzt erwähnt, weil der Begriff Meute fällt, die man ja auch in den Bildern auch immer sehen kann. Die im Hintergrund sieht man meistens nicht. Und dann sind Entscheidungen getroffen worden, die aus meiner Sicht nicht nur problematisch sind, sondern die schlicht falsch waren. Erstens ist mit den Interviews in die Persönlichkeitsrechte der Opfer eingegriffen worden in unnachahmlicher Weise, und zum Zweiten haben sich die Medien als Plattform für die Selbstdarstellung der Gangster zur Verfügung gestellt. Beides ist aus meiner Sicht ethisch nicht zu verantworten.

Scholl: Vor 20 Jahren die Geiselnahme von Gladbeck. Das war Manfred Protze vom Deutschen Presserat. Ich danke Ihnen für das Gespräch!
Mehr zum Thema