Weltgeschehen im Privaten

Vorgestellt von Jörg Magenau · 22.07.2005
Während eine Million Menschen im Februar 2003 gegen den Irak-Krieg demonstriert, geht der Arzt Henry Perowne seinen Alltagsbeschäftigungen nach. Doch bald stellt sich für ihn die Gewaltfrage ganz konkret in der eigenen Familie. Meisterhaft versteht es Ian McEwan, das Weltgeschehen im Privaten zu erzählen.
Ein Tag ist so lang, wie das Bewusstsein trägt. Er dauert vom Aufwachen bis zum Einschlafen und ist nicht in Stunden zu messen. Wenn der britische Bestsellerautor Ian McEwan in seinem neuen Roman "Saturday" auf das literarische Muster zurückgreift, einen einzigen Tag seines Helden zu beschreiben, dann umfasst das Buch doch viel mehr. Im Bewusstsein mit all seinen Erinnerungen steckt in jedem einzelnen Augenblick das ganze Leben. Zeit ist nicht auf den Moment einzuschränken.

Deshalb wird aus "Saturday" ein komplexer Roman voller Abschweifungen und nicht bloß das Protokoll eines Tages – so wie das große Vorbild dieser Gattung, der "Ulysses" von James Joyce.

Dabei hat Ian McEwan durchaus einen besonderen Tag gewählt. Am 15. Februar 2003 fand in London eine riesige Demonstration mit rund einer Million Menschen gegen den angekündigten Irak-Krieg statt. Henry Perowne, der im Mittelpunkt der Handlung steht, nimmt daran nicht teil. Nicht dass er unbedingt für den Krieg wäre, aber er ist doch nicht entschieden genug dagegen und misstraut der sich selbst feiernden Feststimmung der Demonstranten.

McEwan siedelt seinen Roman also gezielt neben der eigentlichen Haupthandlung des Tages an, in Nebenstraßen und im scheinbar abgeschlossenen und gut gesicherten Abseits des Privaten.

Perownes Tag steht unter keinem günstigen Stern. Früh am Morgen steht er am Fenster, weil er nicht schlafen kann, und beobachtet ein brennendes Flugzeug, das mit dröhnenden Motoren gerade noch die Landung in Heathrow schafft. Das erinnert ihn an den 11. September in New York und aktiviert die latente Angst vor einem bevorstehenden Terroranschlag.

"London wartet auf seine Bombe", heißt es ganz am Ende des Romans, der von der allgegenwärtigen Stimmung der Terrorerwartung grundiert wird. Doch zu sehen sind an diesem Tag nur die Friedensdemonstranten. Der Krieg hat noch nicht begonnen, die Bomben in der U-Bahn sind noch nicht gezündet.

Perowne macht stattdessen Bekanntschaft mit einem Kleinkriminellen von der Straße und mit handfester Gewalt. Diese Begegnung verunsichert ihn, und sie führt schließlich zu einem furiosen Showdown im Kreis der Familie, die sich durch die äußere Bedrohung noch fester zusammenschließt.

Perowne ist ein erfolgreicher Neurochirurg, der schwierigste Hirnoperationen durchführt und gelernt hat, die Komplexität der Materie und die Fortschrittskraft der Evolution zu bewundern. Er ist Materialist und Rationalist, doch sein Weltbild wird an diesem Tag gehörig auf die Probe gestellt.

Zunächst freut er sich auf sein samstägliches Squash-Spiel mit einem Kollegen. Bis dahin braucht McEwan 140 Seiten. Die Squash-Partie selbst nimmt mehr als 20 Seiten ein. McEwan beschreibt sie Ballwechsel für Ballwechsel. Doch in Perownes Konzentrationslücken, die zu Punktverlusten führen, ist Platz für aktuelle Ängste und Sorgen, Abschweifungen, die ins Erzählen führen.

Meisterhaft versteht es McEwan, aus der Nichtigkeit einer Squash-Partie Romanstoff zu machen. Er, dessen Literatur einst auf untergründigem Grauen baute und den ultimativen Schock suchte, hat sich mittlerweile darauf verlegt, mit möglichst wenig Stoff auszukommen, um das Leben möglichst pur einzufangen.

Anschließend kauft Perowne Fisch, um abends ein Essen im Kreis der Familie zuzubereiten. Er liebt seine Frau Rosalind, eine erfolgreiche Juristin, der er seit über 20 Jahren treu geblieben ist und seine Kinder, den Blues-Musiker Theo und die angehende Lyrikerin Daisy. Eine intakte, zufriedene, angemessen zweifelnde und zeitkritische Familie der oberen Mittelschicht also. Gemeinhin gelten solche Leute als nicht literaturfähig, weil zu langweilig. Aber McEwan zeigt, welches Konfliktpotential in ihnen steckt.

Liebe muss nicht in die Krise führen, um literaturtauglich zu werden. "Hat ein Dichter je darüber geschrieben? Nicht über das einmalige Ereignis, sondern über die stete Wiederholung im Lauf der Jahre?", lässt er seinen Helden überlegen, während er sich im Bett an den warmen Leib seiner Frau anschmiegt. Eine rhetorische Frage. Der Dichter, der so etwas beschreibt, heißt Ian McEwan. "Saturday" ist auch und vor allem ein wunderbarer Liebesroman.

McEwans erzählerischer Trick besteht darin, das Weltgeschehen ins Private herunter zu brechen. Die Gewaltfrage stellt sich plötzlich ganz konkret, so dass die zwischen Vater und Tochter ausgetauschten Argumente für und wieder das Eingreifen im Irak eher scholastisch wirken. Perowne muss begreifen, dass die Welt nicht rational zu erklären ist und der Lauf der Geschichte sich nicht aus der DNA-Struktur ablesen lässt.

Am Ende ist es ausgerechnet die Lyrik, mit der die Rettung aus einer ausweglosen Situation gelingt. Wie das funktioniert, darf nicht im Voraus verraten werden. Denn "Saturday" ist, so wenig darin auch geschieht, nicht nur das Psychogramm einer Figur, nicht nur ein Roman über unsere gegenwärtige Weltlage, sondern auch ein Buch über die Macht der Sprache und ein packender Thriller. Wie könnte es bei McEwan auch anders sein.

Ian McEwan: Saturday
Roman. Aus dem Englischen von Bernhard Robben.
Diogenes Verlag, Zürich 2005, 388 Seiten, 19,90 Euro