Wein, Konzerte und soziale Degradierung

Rezensiert von Jörg Magenau · 18.08.2006
"Was wird mit uns geschehen" - diese Frage stellt sich der Kommunist Kurt Stern, in den Tagebüchern, die er zwischen 1939 und 1940 in französischen Internierungslagern schrieb, häufig. Zwar war die Situation mit Konzerten, Weinabenden und Schachturnieren in den Lagern besser, als erwartet. Doch Freiheitsberaubung und soziale Erniedrigung, machten Stern trotzdem zu schaffen.
"Der Reiz von Tagebüchern besteht in ihrer Unmittelbarkeit", schreibt Christa Wolf im Vorwort. Denn wer sie schrieb, "konnte nicht wissen, wie es weitergeht". Das trifft ganz bestimmt auf Kurt Stern und seine Tagebücher aus französischen Internierungslagern in den Jahren 1939 und 1940 zu, als nicht abzusehen war, wann und wie der Krieg zu Ende gehen und welches Land den Exilanten Zuflucht gewähren würde. Christa Wolf war mit Kurt Stern befreundet, der später in der DDR zu den Emigranten aus westlichen Ländern gehörte, die das intellektuelle Profil des jungen Staates prägten.

Stern war Kommunist, aber er fand nichts Schlimmes dabei, zu zweifeln und auch Entscheidungen des Zentralkomitees in Frage zu stellen. "Ist es ein Verdienst, niemals gezweifelt zu haben?" schreibt er 1939 in sein Tagebuch. "Ich bestreite das." Gründe zu zweifeln, gab es genug. Es war die Zeit des Hitler-Stalin-Paktes, der die Anhänger der Sowjetunion plötzlich an die Seite der Nationalsozialisten stellte, von denen sie doch verfolgt und ins Exil getrieben worden waren.

Auch der Sowjetische Überfall auf Finnland war nur schwer zu rechtfertigen. All diese Diskussionen mussten im Lager geführt werden, abgeschnitten von zuverlässigen Nachrichten und umschwirrt von Gerüchten. Man kann in diesem Tagebuch miterleben, wie schwer es ist, die Geschichte unmittelbar in ihrem Verlauf zu begreifen und die richtigen Schlüsse für das eigene Handeln daraus zu ziehen.

Kurt Stern hatte 1932 seine französische Frau Jeanne geheiratet und war 1933 mit ihr nach Frankreich gegangen. Mit Kriegsausbruch gehörte er aber zu den Deutschen, die zunächst in Stadien, dann in Lagern interniert wurden. "Verregneter Tag", heißt es immer wieder. Oder: "Ziemlich leerer Tag." Und doch ist das Leben im Lager zunächst weniger schrecklich, als man glauben könnte. Es gab Wein, abendliche Konzerte, Klavierunterricht, ein Schachturnier. Bei einem Transport gibt der französische Soldat den Häftlingen hinten auf der Pritsche gar sein Gewehr, weil er es sich vorne im LKW gemütlich machen möchte.

Demütigend war nicht nur die Freiheitsberaubung und die soziale Degradierung, die Enge und die unkomfortable Lage, sondern vor allem die Tatsache, von den Franzosen als Feind betrachtet zu werden, wo man doch selbst kämpfen wollte gegen den Hitlerfaschismus. Gegen die erzwungene Untätigkeit führte Kurt Stern seine täglichen Notizen, in kleine Hefte, mit winziger Schrift und auf Französisch, damit seine Mithäftlinge es nicht lesen könnten. Seine Tochter hat die Hefte nach seinem Tod im Herbst 1989 auf dem Dachboden entdeckt und nun herausgegeben.

Stern, 1907 in Berlin geboren, war der Sohn jüdischer Eltern. Die Sorge um sie, die in Deutschland zurückblieben, taucht zweimal knapp in den Notizen auf. Sie wurden schließlich nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Die eigene jüdische Identität spielte für Stern dagegen keine Rolle. Der Blick des Kommunisten auf die jüdischen Mithäftlinge ist eher feindselig, als habe er mit ihnen nichts zu tun. Er beklagt ihren Egoismus, ihre mangelnde Solidarität, die nicht über die Familie und den Besitz hinausgehe und, dass sie zu feige seien, ihren "tausendfach berechtigten Hass in Aktion zu verwandeln." Später, in der DDR, so berichtet Christa Wolf, sprach Kurt Stern nie über seine Eltern und ihren Tod in Auschwitz. Ihr Judentum hatten die klassenbewussten Kommunisten gründlich verdrängt.

Die erste Internierung und das erste Tagebuch enden kurz vor Weihnachten 1939. Mit Hitlers Überfall auf Belgien und die Niederlande und dem Krieg gegen Frankreich beginnt am 10.5.1940 das zweite, weniger ergiebige Tagebuch. Jetzt drohte die Lage "weniger spaßig" zu werden. Mit Hitlers militärischen Erfolgen dominiert die Angst um die eigene Haut. Die Einträge werden knapper. Die im Anhang versammelten Briefe an Kurt und Jeanne Stern aus den Jahren 1940/41 belegen, wie schwer es gewesen ist, aus Frankreich herauszukommen. Auch Briefe von Anna Seghers sind dabei, die in dieser Zeit ihren Roman "Transit" schrieb. Die Sterns entkamen erst 1942 nach Mexiko.
Kurt Stern: Was wird mit uns geschehen? Tagebücher der Internierung 1939 und 1940.
Mit einem Vorwort von Christa Wolf
Aufbau Verlag, Berlin 2006
232 Seiten, 18,90 Euro