Was wir wirklich wissen müssen

Reinhard Kahl im Gespräch mit Liane von Billerbeck · 09.03.2012
Die Kultusminister der Länder haben beschlossen, das Abitur in bestimmten Kernfächern über die Ländergrenzen hinaus vergleichbarer zu machen. Dem Bildungsexperten Reinhard Kahl reicht das nicht. Er schlägt vor, den Umfang des bis zum Abitur vermittelten Stoffes weiter zu reduzieren.
Liane von Billerbeck: Wer Abitur hat, der weiß bestimmte Dinge aus der Physik, Chemie, der kann auf etwa gleiche Weise Französisch, Mathematik und Deutsch – dachten Sie? Stimmt aber offenbar nicht. Denn gestern haben die Kultusminister der Länder beschlossen, die in unserem föderalen System ja über das Bildungswesen bestimmten, das Abitur in bestimmten Kernfächern vergleichbarer zu machen – heißt ja, das war es bisher nicht. Das offenbar Unterschiedliche in den Anforderungen an die Schüler soll also ähnlicher werden. Immer wieder hatte es Ärger mit Schülern und deren Eltern gegeben, wenn jemand auf dem Schulbildungsweg von einem deutschen ins andere deutsche Bundesland wechselte und Bonus- beziehungsweise Maluspunkte für das bisher erlernte zugeschrieben oder abgezogen bekam. Nun soll also das Abitur in Deutschland vergleichbarer werden, aber wie viel Vergleichbarkeit braucht Schule eigentlich? Was bleibt dabei auf der Strecke? Bevor wir darüber mit dem Bildungsexperten Reinhard Kahl sprechen, hier Hamburgs Senator für Schule und Bildung, derzeit Vorsitzender der Kultusministerkonferenz der Länder über die Pläne zum Abitur.

"Es wird immer viel von einem Zentralabitur geredet, dabei wissen alle Beteiligten, dass es das in Deutschland kaum geben wird, aber man kann was anderes versuchen: Man kann ja versuchen, dass die Arbeiten gleich schwer sind, und dass sie auch die gleiche Wertigkeit, die gleiche Schwierigkeitsstufe haben. Das Ergebnis muss in der Tat hier vergleichbar sein, daran müssen wir arbeiten."

von Billerbeck: Ties Rabe, der Hamburger Senator für Schule und Vorsitzender der Kultusministerkonferenz. Ich bin jetzt verabredet mit dem Bildungsexperten Reinhard Kahl. Guten Tag, Herr Kahl!

Reinhard Kahl: Guten Tag!

von Billerbeck: Hapert es in Deutschland wirklich an der Vergleichbarkeit des Abiturs?

Kahl: Ich glaube nicht. Ich glaube, es hapert an ganz anderen Sachen. Ich zitiere mal eben den Präsidenten der Studienstiftung des deutschen Volkes Gerhard Roth, der ist außerdem Hirnforscher, und der hat im letzten Jahr ein tolles Buch über Bildung geschrieben. Und da steht – vier Sätze –: "Alle Überprüfungen des Wissens, das junge Menschen fünf Jahre nach Schulabschluss besitzen, laufen darauf hinaus, dass das Schulsystem einen Wirkungsgrad besitzt, der gegen null strebt." Roth ist kein Scharfmacher. Wir gucken auf diesen Tag der Prüfung, auf diesen Tag des Abiturs, und da sollen alle möglichst über eine ebenso hochgezogene Leine springen. Man spricht ja auch immer, wie schwer es ist, und man spricht so wenig darüber, was bleibt. Frau Billerbeck, rechnen Sie doch eben mal aus, die inklusive Mehrwertsteuer von 29,50 Euro.

von Billerbeck: Oh Gott!

Kahl: Und so geht es den Hörern auch. Und ein anderer Hirnforscher, Manfred Spitzer, macht bei seinen Veranstaltungen, die er vor Lehrern hält, seine Einlage und sagt, so, liebe Leute, ich unterbreche mal jetzt zehn Minuten. Bitte schreiben Sie doch mal in diesen zehn Minuten auf, Sie kriegen gleich ein DIN-A-4-Blatt von meinen Assistenten, was Ihnen so zur Mathematik der Oberstufe einfällt – und das sagt der ganz ernst. Und dann geht sein Gesicht in ein Grinsen über und dann kommt ein donnerndes Lachen zurück, weil alle Lehrer, die da drin sitzen, wenn sie nicht gerade Mathelehrer oder Physiklehrer sind, wissen, dafür brauchen sie kein DIN-A-4-Blatt. Und eben diese Sache mit der Mehrwertsteuer, dass ist Dreisatz, Stoff der siebten Klasse. Und dann sagt Spitzer: Unser Gehirn, unser Lernorgan ist sozusagen das Protokoll seiner Tätigkeiten. Und was wir nicht brauchen, vergessen wir. Und über diese Frage reden wir überhaupt nicht.

von Billerbeck: Trotzdem, Herr Kahl – jetzt muss ich bei diesem Ganzen –, ja, das ist sehr beeindruckend, was Sie eben gesagt haben. Trotzdem wissen wir ja, dass von dieser blöden Abiturnote natürlich manchmal ganze Lebensläufe abhängen. Wenn man sie verhaut, dann hat man nicht den Numerus Clausus für einen erwünschten Studienplatz, und dann steht man ganz schön dumm da. Also ist das Abitur ja doch ganz schön wichtig. Wie wollen Sie denn eine Leistung sonst bewerten ohne die Abiturnote?

Kahl: Man könnte sich auf was anderes einigen, das wird ja in vielen Ländern gemacht. Da sagt man, was in Deutschland auch eine Zeit lang immer wieder diskutiert wird, wir geben den Schulen mehr Freiheit, aber wir machen durchaus zentrale Prüfungen. Das nennt man dann so im internationalen angelsächsischen Slang Minimal Standards. Also zum Beispiel in Finnland, dem bildungsmäßig berühmten Finnland, gibt es in den Abi-Aufgaben auch Dreisatzaufgaben. Als das vor Jahren in Deutschland bekannt wurde, sagten viele Leute: Ha, Finnland, das ist ja ein Witz. Im Abitur testen sie Dreisatz, wir haben ganz schwierige Aufgaben. Also: Man muss vielleicht gar nicht darüber reden, dass man die Latte hochlegt und dann spezialisieren sich die Schüler darin, wie man drunter durchläuft und nicht drüber springt – das tun sie ja die ganze Zeit –, sondern sich drüber einigen, was soll man wirklich wissen, und wie ist es nachhaltig, dass eben nicht nach fünf Jahren das meiste vergessen wird und das, was nach fünf Jahren bei den meisten Leuten vergessen worden ist, auf das muss man dann vielleicht auch nicht so viel Wert legen. Diese Debatte führen wir ja leider so wenig oder nur mal am Rande.

von Billerbeck: Trotzdem haben wir ja nun festgestellt, dass selbst das, was die Schüler wissen, ist eben sehr verschieden in den einzelnen deutschen Bundesländern. Wäre es nicht wichtig, so eine Katalog von dem, was wir wissen müssen, wenn wir ein Abitur abgelegt haben, dann eben für alle Bundesländer vergleichbar zu haben, dass man eben kein Problem hat, wenn man von Berlin nach Bayern oder umgekehrt zieht, dass die Bayern sagen, aha, du kommst aus Berlin? Na ja, dann müssen wir dich erst mal ein Schuljahr zurückstecken.

Kahl: Ja, also gut, da wird man ja daran geprüft, ob man ein guter Schüler ist oder nicht, ob man was kann. Das sind ja zwei wirklich verschiedene Dinge. Aber was die Kultusminister ja jetzt beschlossen haben – und daraus kann man ja vielleicht auch was Vernünftiges machen –, ist, dass ein sogenannter Aufgabenpool hergestellt werden soll, da wird eine Kommission eingesetzt, diese Kommission soll bis zum Dezember was ausarbeiten, …

von Billerbeck: Das wird noch eine Weile dauern.

Kahl: … dann will man 2013 damit beginnen, diesen Aufgabenpool herzustellen, und im Jahr 2015, 2016 soll das dann erst mal gemacht werden – man wird sehen. Man könnte bei so einem Aufgabenpool ja zum Beispiel sich diese etwas weitere Debatte und auch die internationalen Debatten ansehen und eben nicht darüber reden, wie machen wir die Hürde unrealistisch hoch, sondern was ist realistisch, gemessen an dem, was man in dem berühmten späteren Leben und in den späteren Studienfächern und so weiter wissen und können soll. Und das ist dann eben nicht, wie man im Augenblick sagt, sozusagen eine Gerechtigkeitsfrage, dass überall die Hürde genau so hoch ist, sondern das wäre eine Frage, was bleibt denn. Also vielleicht wäre es doch mal ganz witzig, nicht alle Abiturienten, aber zehn Prozent, mal einfach so fünf Jahre danach, noch zur Prüfung zu bitten. Und dann würde man …

von Billerbeck: Um zu fragen, was ist noch übrig geblieben?

Kahl: Ja, und dann hätten wir eine andere Debatte, oder die Frage, die kann sich auch jeder selbst stellen. Vielleicht können wir ja auch mal Herrn Ties Rabe die inklusive Mehrwertsteuer ausrechnen lassen, wenn er sich nicht drauf vorbereitet hat.

von Billerbeck: Aber nun sind wir ja in der irren Situation, dass wir jetzt 16 Bundesländer haben, und schon derzeit ist es so, dass fünf Bundesländer beschlossen haben oder angekündigt, dass sie 2014 in zwei Fächern einen Pool gemeinsamer Abituraufgaben entwickeln. Das heißt, man ist sich einig eigentlich nur in der Uneinigkeit.

Kahl: Na ja, ich meine, das sind ja doch auch – das muss man einfach sehen – diese Profilierungsspiele zwischen den Kultusministern, zwischen den Ländern, da ist vieles, wie man so schön sagt, enorm selbstreferenziell. Das betrifft die Leute, das betrifft das Leben gar nicht so sehr, und wir haben ja in Deutschland eine starke Tradition, dass wir gerne Bildungskriege führen. Und zum Teil sind das Scharmützel in dieser immer noch nicht aufgegebenen nutzlosen teutonischen Schlacht.

von Billerbeck: Aber wäre es nicht sinnvoller, wenn man das beobachtet, was da gerade auf der Ebene der Kultusministerkonferenz läuft, auch, was man manchmal so an Vorurteilen zwischen Bundesländern und Schulen von Bundesländern erlebt, wäre es nicht endlich sinnvoller, Bildung zur Bundessache zu machen, um eben diese Möglichkeiten zu haben und diese Kleinkriege zu vermeiden?

Kahl: Ich weiß nicht, ob das wirklich die richtige Frage ist. Also wir haben in Deutschland ja genau genommen 16 Zentralstaaten in Sachen Bildung, und die sind ja mal, um sie im internationalen Vergleich zu sehen, die meisten Bundesländer haben ja mehr Einwohner als Länder wie Finnland oder Schweden zum Beispiel. Diese Länder sind einen anderen Weg gegangen in den 80er- und 90er-Jahren, sie haben die Bildung stärker kommunalisiert und haben sozusagen ihre Zentrale geschwächt. Das könnte man sich natürlich auch für Deutschland überlegen, dass wir sozusagen die Bundeszentrale, also Berlin, den Bund etwas stärken, und dass wir die Kommunen stärken, da wo Verantwortlichkeiten entstehen konnten zwischen der Schule und der Gemeinde oder den Leuten. Nur das ist dasjenige, was die Länder nicht wollen, weil die Bildungspolitik ist sozusagen das Hauptprofilierungsfeld der Bundesländer. Die wären etwas Arbeit los, das heißt, die hängen auch an diesem Thema Bildungspolitik, weil das das Hackbrett ist, auf dem sie etwas schlagen, aber sie meinen eigentlich, dass sie immer damit ihre Wichtigkeitsübung machen. Das muss man eben …

von Billerbeck: Kommunale Bildung, Herr Kahl, wie müssen wir uns das vorstellen?

Kahl: Bitte?

von Billerbeck: Bildung auf Ebene der Kommunen – wie müssen wir uns das vorstellen?

Kahl: Ja, das kann man in Schweden oder in Finnland besichtigen. Da hat man also die Zentralschulbürokratie zum Teil abgeschafft, hat sie in Beratung umgewandelt, die Kommunen bekommen das Geld für die Schulen, die Schulen haben einen Etat, mit diesen Etat – Geld ist ja eine wichtige Sache – können sie entscheiden, ob sie jetzt stärker in die Lehrerfortbildung das reinstecken oder ob sie das Dach decken müssen. Sie können auch stärker entscheiden, worauf sie ihre Schwerpunkte legen, sie können auch stärker entscheiden, was für Leute – das müssen ja nicht unbedingt immer nur Lehrer sein, sondern auch andere Experten – sie einstellen, sie müssen sich rechtfertigen vor der Gemeinde. Sie entwickeln einen ganz anderen Stolz, sie entwickeln mit dieser Selbstständigkeit ein anderes Bewusstsein. Sie werden, wenn man so will, erwachsener, und das steckt die ganze Atmosphäre und auch die Schüler an. Wir haben in unserem System so viel Infantilität, was immer weiter gegeben wird, und am Ende dieser Infantilitätsketten haben wir dann Schüler, die nach 13, oder jetzt 12 Jahren Schule nicht wissen, was sie wollen. Das ist doch betrüblich.

von Billerbeck: Das sagt der Bildungsexperte Reinhard Kahl nach dem Beschluss der Kultusministerkonferenz, das Abitur deutschlandweit vergleichbarer zu machen. Danke Ihnen!

Kahl: Bitte!


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.


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