Was vom Reformator übrig blieb

Jochen Hörisch im Gespräch mit Ralf Bei der Kellen · 09.05.2009
Nach Ansicht des Literatur- und Medienwissenschaftlers Jochen Hörisch kann man Johannes Calvin nicht für die Ausprägung des modernen Kapitalismus verantwortlich machen. Hörisch betonte, angesichts der aktuellen Krise würde Calvin wahrscheinlich darauf verweisen: "Das System der Moral und der Leitcode der Moral ist was anderes als der Leitcode der Ökonomie."
Ralf bei der Kellen: Welche Beziehung hatte der Reformator Johannes Calvin zum Geld?

Jochen Hörisch: Calvin kam aus einer Familie, die gut etabliert war, und dann hatte sein Vater aber einen Konflikt mit seinem kirchlichen Arbeitgeber. Er war so eine Art Notar der Kirche und es gab da einen Berufskonflikt, bis heute nicht ganz aufgeklärt, was es war, und er hat gewissermaßen keine Pensions- und keine Rentenzahlungen gekriegt. Die Familie verarmte also durch einen Geldkonflikt mit dem kirchlichen Arbeitgeber. So präzise kann man beantworten, wie die persönlichen Umstände und die biografischen bei Calvin waren. Er wusste, was die Kirche ist, und er wusste, was Geld ist. Für Calvin war Geld ein Zeichensystem. Man muss sich deutlich machen, was Calvin theologisch von Luther unterscheidet und man vergisst das heute immer wieder, dass auch Luther im Hinblick auf die berühmt-berüchtigte Frage, wie das Abendmahl zu verstehen ist, Realpräsenztheoretiker ist und Theologe ist, soll heißen: Auch für Luther steht fest, dass Jesus Christus in Brot und Wein real gegenwärtig ist. Calvin macht eine Zeichentheorie des Abendmahls und sagt, es verweist auf die zukünftige, auf die eschatologische Erlösung hin, aber es ist in der Modernen nicht akzeptabel davon auszugehen, dass Brot wirklich Christi Fleisch geworden ist und Wein wirklich Christi Blut geworden ist. Er ist absolut und noch militanter als Luther gegen die Transsubstantiationstheorie. Warum gehe ich darauf ein? Weil Calvins Verständnis des Abendmahls zeichentheoretisch läuft. Es ist ein Zeichen für etwas anderes, und auch Calvin ist derjenige, der wirklich weiß: Geld ist ein Zeichensystem, an Geld ist nichts Substanzielles dran.

bei der Kellen: Dieser Tage wird Calvin von den Medien ja häufig auch als Mitschuldiger der Finanzkrise bemüht. Dies resultiert ja vor allen Dingen aus der Tatsache, dass der Nationalökonom und Soziologe Max Weber zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Behauptung aufgestellt hat, Calvin sei zumindest einer der Väter des modernen Kapitalismus. Calvin selbst aber mahnte im Umgang mit Geld immer wieder zu Moderatheit, denn, wie Sie ja schon erwähnten, hatte er selber häufig unter Geldknappheit gelitten und sprach sich auch immer wieder gegen eine übertriebene Zinsnahme aus. Herr Doktor Hörisch – ist er nun der Vater oder ein Vater des Kapitalismus oder nicht?

Hörisch: Großentwicklungen haben immer viele Väter. Man würde ja absolut übertreiben, wenn man sagen würde: Für die Moderne ist Luther oder Kopernikus oder Bruno oder eben Calvin oder Zwingli oder so was verantwortlich, oder Columbus. Aber natürlich ist Calvin einer der gescheitesten Köpfe, die was Eigenartiges gemacht haben, nämlich ihrer Zeit die Diagnose zu stellen, und dadurch, dass man die Diagnose stellt, erzielt man Rückwirkungen auf das, worüber man etwas diagnostiziert. Und Calvin ist wohl einer der ersten, der sich solche Rückkoppelungseffekte bewusst geworden ist. Ich will das ganz massiv illustrieren. Feminismus ist eine Theorie, die das Genderverhältnis ändert. Das ist anders, als wenn Sie kosmologisch irgendwelche Umlaufbahnen von Planeten um die Sonne oder so was beschreiben, dann spricht alles dagegen, dass die physikalische Beschreibung Auswirkung auf die Umlaufbahnen hat. Die feministische Theorie ändert das Geschlechterverhältnis. Calvins Theorie des Verhältnisses von Erlösungsversprechen, Prädestinationslehre auf der einen Seite und irdischen Verhältnissen ändert das Verhältnis von Himmel und Erde, von Gott und Welt, und noch das war dem sehr intellektuellen, scharfen Analytiker Calvin bewusst. Er hat gewusst, dass alle seine Sätze Auswirkungen haben, etwa auf die Lebensführung, und genau das ist ja der Punkt, der Max Weber interessiert: Warum ist eine bestimmte Form von asketischer, berufsethisch fixierter Lebensführung im Umkreis von Calvin ausgeprägt worden? Warum ist die Dynamik in den angelsächsischen Ländern – Manchester-Kapitalismus, industrielle Aufrüstung der USA, Finanzkapital, Wall-Street –, warum ist das im Zeichen des Protestantismus geschehen, und nicht im Zeichen etwa des Katholizismus? Immerhin werden ja in Oberitalien in der Frührenaissance die ersten Banken gegründet. Da gab es ja noch gar keinen Protestantismus. Genau das ist die Fragestellung, der Max Weber nachgeht, wenn er aufmerksam Calvin liest.

bei der Kellen: Aber wenn Calvin sehen könnte, wie heute an den Börsen und an den Banken mit Geld umgegangen wird, was denken Sie, was würde er sagen?

Hörisch: Es ist sehr schwer, Tote zu befragen, weil die Toten die unangenehme Eigenschaft haben, nichts mehr zu sagen. Mit denen kann man nicht kommunizieren. Aber ich denke, er würde wiederum sagen: Das System der Moral und der Leitcode der Moral ist was anderes als der Leitcode der Ökonomie. Es ist sehr, sehr schwer, Moral und Ökonomie zusammenzubringen, übrigens auch – das ist ja der, wenn Sie so wollen, theologisch-skandalöse Einsatzpunkt von Calvin – sehr schwer, Moral und Theologie zusammenzubringen. Der heiße Kern der Prädestinationslehre von Calvin ist ja, dass unser Seelenheil, unser ewiges, durch Gottes allmächtigen Willen vorherbestimmt ist. Nichts anderes heißt Prädestination. Die Alternative ist Werkgerechtigkeit. Wer sich ordentlich benimmt, kommt in den Himmel, und wer ordentlich beichtet und von den Gnadenmitteln der Kirche Absolvenz von seinen moralischen Schulden bekommt, der wird das ewige Seelenheil erlangen. Also katholische Werkgerechtigkeit versus protestantische Gnadentheologie, bei Luther schon, sola gratia statt katholische Gnadenmittel, und bei Calvin noch einmal radikalisiert: Es ist prädestiniert. Und ich wiederhole mich: Weil es prädestiniert ist, kann man sozusagen innerirdisch machen, ökonomisch gesehen, was man will. Das Moralsystem ist das Moralsystem, das ökonomische System ist das ökonomische System und das theologische System ist das theologische System. Calvin geht aber noch einen Schritt weiter und sagt: Genau das haben die gemeinsam, dass sie nichts gemeinsam haben. Die Moderne steht – ich gebe zu, dass ich jetzt Calvin forciert interpretiere – im Zeichen dessen, was die Soziologie funktionale Ausdifferenzierung nennt. Jedes gesellschaftliche Subsystem folgt seinen eigenen Regeln.

bei der Kellen: Würden Sie persönlich Calvin Ihr Erspartes anvertrauen?

Hörisch: Unbedingt. Eine integerere Gestalt dürfte es nicht gegeben haben. Lieber Calvin als einem italienischen Bänker von der Banca Vaticana.

bei der Kellen: Wenn Sie Calvin heute noch treffen könnten – was unwahrscheinlich ist, aber nehmen wir es mal an –, was glauben Sie: Wäre er Ihnen sympathisch oder könnten Sie eher nichts mit ihm anfangen?

Hörisch: Wir machen ein Rundfunkgespräch, das heißt, unsere Zuhörer können nicht sehen, wie der Hörisch aussieht. Könnten sie das, würden sie sehr schnell merken, dass ich ein sehr anti-asketischer Mensch bin, gerne esse, gerne trinke. Ich habe eine rote Nase, das hat auch gute oder schlechte Gründe, und dergleichen mehr. Calvin hat natürlich eine auf das Jenseits hin ausgerichtete, aber – ich wiederhole mich – dem Diesseits seine Eigenlogik überlassende Theologie entwickelt, die sehr, sehr, sehr rigide war. Gucken Sie sich den Dresscode an, gucken Sie sich die asketische Lebensführung an, gucken Sie sich die moralisch rigiden Standards an, die da in Genf geherrscht haben. Das war schon sehr, sehr freudlos.

bei der Kellen: Also kein Mensch für Sie.

Hörisch: Nein. Lieber Luther. Nehmen Sie jetzt mal, wenn man auf der psychologischen Ebene ist, nehmen Sie den Phänotypus Luther, wie gerne der gegessen und getrunken, mit seiner Frau geschlafen hat, Kinder gezeugt hat. Wenn Luther gefragt wird: Was würdest du machen, wenn morgen die Welt unterginge? Und dann kommt die berühmte Antwort: Ich würde noch heute ein Apfelbäumchen pflanzen. Dann haben Sie, soziologisch, psychologisch gesehen, zwischen Luther und Calvin das Verhältnis des absoluten Antitypus.

bei der Kellen: Was denken Sie denn, was hätte Calvin auf die Frage geantwortet: Was würdest du tun, wenn morgen die Welt unterginge?

Hörisch: Sie würde untergehen, so ist es vorgesehen und das akzeptiere ich. Das ist Gottes ewiger Ratschluss und so muss das sein, wer bin ich, wenn ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanze?

bei der Kellen: Vielen Dank, Herr Dr. Hörisch, für das Gespräch. Schön, dass Sie bei uns waren.

Hörisch: Ich danke Ihnen für das Interesse.