Was uns in Wahrheit steuert

22.05.2012
David Eagleman hat durch spektakuläre Experimente so etwas wie Popstarstatus unter den Hirnforschern erreicht. In seinem Buch "Inkognito" fasst er im angenehmen Plauderton die neuesten Erkenntnisse der Hirnforschung zusammen und zeigt, dass in unserem Kopf immer mindestens zwei Denkprozesse sich widerstreiten - und so flexibles Verhalten ermöglichen.
David Eagleman ist ein Popstar unter den Hirnforschern. Er lässt Versuchspersonen Achterbahn fahren, um zu messen, ob Angst die Zeit langsamer vergehen lässt. Die Europäische Zentralbank vertraut seinem Rat bei der Entwicklung fälschungssicherer Banknoten und seine Kurzgeschichten über das Leben nach dem Tod wurden in mehr als 20 Sprachen übersetzt. Entsprechend hoch sind die Erwartungen an Eaglemans neuestes Buch. Doch "Inkognito" verhandelt solide Hirnforschung, mehr aber auch nicht.

Kein Wort von Achterbahnfahrten. Statt seine eigenen spannenden Experimente zu beschreiben, kartiert Eagleman im ersten Teil des Buches ein Terrain, das vor ihm schon andere abgeschritten haben. Im Zentrum stehen verblüffende, aber eben nicht neue Erkenntnisse: Die Wahrnehmung entspricht nicht der Wirklichkeit, sie ist eine Simulation des Gehirns. Das Bewusstsein dient nur der Festlegung großer Ziele, mit dem täglichen Leben hat es wenig zu tun. Unbewusste Prozesse steuern den Großteil des Verhaltens - und das ist auch gut so. Denn wer etwa beim Tennisspielen über den nächsten Schlag nachdenkt, hat schon verloren. Und das Ich zerfällt in verschiedene Prozesse, die ständig im Konflikt liegen: die Lust auf Schokolade und der Wunsch abzunehmen.

Eaglemans eigener Beitrag besteht darin, herauszuarbeiten, dass dieser Widerstreit der Denkprozesse kein Nachteil, kein Designfehler der Evolution ist, sondern im Gegenteil flexibles Verhalten ermöglicht. Den Roboterforschern rät der Neurowissenschaftler deshalb, das Konzept der mit einander streitenden Parallelprozesse zu kopieren, um ihren Maschinen endlich intelligentes Verhalten zu ermöglichen. Unterm Strich, so Eagleman, organisiert das Gehirn die Show inkognito, ohne dem Bewusstsein Zugang zu den entscheidenden Prozessen zu gewähren.

Im zweiten Teil seines Buches versucht er, aus dieser Erkenntnis Schlussfolgerungen für die Gesellschaft zu ziehen. So fordert er ein "hirnkompatibles Gesetzbuch", denn individuelle Schuld lasse sich schlecht messen, wenn das Ich wenig von seinen wahren Beweggründen weiß – so der Autor. Deshalb solle bei der Bestrafung nicht die Tat, sondern das Rückfallrisiko entscheidend sein. Und statt Verbrecher wegzusperren, soll ihnen irgendwann eine Art Biofeedback-Therapie ihre schädlichen Neigungen austreiben. Das liest sich provokant, ist aber auch nicht wirklich neu.

Es ist allerdings schon verblüffend, wie selbstverständlich Eagleman die Neurowissenschaft zur einzig verlässlichen Wurzel des Rechts stilisiert. Widerspricht das doch seinem Credo, dass wahre Intelligenz erst aus dem Wettstreit der Ideen und Prozesse entsteht.

Richtig spannend wird "Inkognito", wenn Eagleman mit dem Reduktionismus seiner Zunft ins Gericht geht. Vielleicht, so meint er, gibt es ja doch einen Platz für die Seele. Irgendwo. Irgendwie. In jedem Fall ist das "Ich" mehr als das Gehirn, es ist eng verknüpft mit Umwelt und Gesellschaft. "Das Gehirn ist nicht der Sitz des Geistes, sondern sein Nabel", schreibt Eagleman. Zumindest das liest sich wie ein Versprechen auf ein wirklich inspirierendes Buch.

Besprochen von Volkart Wildermuth

David Eagleman: Inkognito. Die geheimen Eigenleben unseres Gehirns
Übersetzt von Jürgen Neubauer
Campus Verlag 2012
328 Seiten; 24,99 Euro
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