Was ich Dir noch sagen wollte (Bonus 2)

    "Ich durfte Dich nicht in den Armen halten"

    Brennende Kerze auf einem Tisch
    An jedem Tag ein stilles Gespräch mit dem Sohn: "Ich zünde immer wieder Kerzen für Dich an und sehe Dir in Gedanken beim Aufwachsen zu." © Elizabeth Lies / Upsplash
    Von Sophie · 30.05.2018
    Diesen Beitrag schickte uns eine Hörerin im Mai 2018. Sie erzählt von ihrer Schwangerschaft und wie es dazu kam, dass Samuel nicht geboren wurde: "Ich hatte nicht den Mut, mich allein mit Dir zusammen gegen die Welt zu stellen."
    Liebster Samuel, Du bist mein erster, leider nicht geborener Sohn. Ich möchte Dir heute endlich schreiben und erklären, warum Du nur in Gedanken in meinem Leben bist.
    Geboren bist bzw. wärst Du am 7. April 2018. Im letzten Jahr ungefähr um diese Zeit war ich sehr glücklich. Ich war mit mir im Reinen, fühlte mich aufgeräumt, lachte viel. Auf einem Konzert für Weltmusik lernte ich Deinen Papa kennen. Wir saßen den ganzen Abend nebeneinander. Und wir verliebten uns.

    Aus unserer Serie "Was ich Dir noch sagen wollte". Hier alle Folgen im Überblick

    Die Beziehung begann ganz wundervoll. Wir schmiedeten Zukunftspläne. Meine Träume bekamen Flügel. Für mich fühlte es sich nach etwas Großem und Weitreichendem an.
    Tja, aber dann traten doch die ersten Schwierigkeiten auf. Ich hatte das Gefühl, dass ich Deinen Papa mit Worten nicht gut erreichen kann. Er die Dinge, die ihn beschäftigen nicht mit mir teilt. Ich wusste, dass er noch Dinge aus erster Ehe klären musste. Dachte aber, dass er und das wir das schaffen können.

    Das Chaos der Gefühle

    Dann wurde ich schwanger. Ich ahnte das bereits, bevor ich das endgültige Ergebnis hatte und hatte große Angst davor, dass die Ahnung stimmt. Dann hatte ich das Ergebnis. Einen Augenblick wusste ich nicht, was ich tun sollte. In das Chaos der Gefühle mischte sich aber schnell eine leichte und zarte Freude. Ich freute mich auf ein neues, bunteres Leben.
    Ich rief Deinen Papa an und sagte ihm, dass ich schwanger bin. Noch am Telefon sagte er "Nein". Ich bat ihn darum, dass wir uns treffen. Ich wollte mit ihm sprechen. Es folgten die vermutlich schlimmsten Tage meines Lebens.
    Ich rang und kämpfte darum, flehte Deinen Papa an – und nie habe ich in meinem Leben einen Menschen angefleht – dass er offen und ehrlich mit mir spricht. Seine Sorgen und Ängste mit mir teilt. Ich wollte verstehen, was hinter seinem "Nein" steht. Ich wollte wissen, warum er sich nicht vorstellen konnte, noch ein Kind zu bekommen, mit mir eine neue Familie zu gründen.
    Ich war bereit, beide Wege zu denken. Den Weg, ein Kind zu bekommen oder auch einen Abbruch der Schwangerschaft, in Erwägung zu ziehen. Aber ich wollte unbedingt, dass wir es uns nicht leicht machen. Wollte, dass wir alles, aber auch wirklich alles versuchen und durchdenken, bis wir uns entscheiden. Ich fand, dass wir das Dir und dem Leben schuldig waren.

    Ich wünschte mir ein Wunder

    Gleichwohl wusste ich zu diesem Zeitpunkt längst, dass ich Dich, liebster Samuel, gern bekommen möchte. Ich wünschte mir so sehr, dass die Geschichte gut ausgeht. Ja, dass ein Wunder passiert. Ich konnte mir vorstellen, mit Deinem Papa eine Familie zu gründen und zwar, weil ich Deinen Papa geliebt habe und ein Teil von mir ihn noch immer liebt. Für mich war damit das wichtigste Fundament – auch wenn ich sehr früh in der Beziehung schwanger geworden bin – für eine gemeinsame Zukunft gegeben.
    Aber ich wusste auch, dass ich in die Schwangerschaft nicht um jeden Preis, gegen alle Widerstände, aufrechterhalten wollte und konnte. Ich wollte nicht alleinerziehend sein, hatte Angst davor, wusste nicht, was da auf mich zukam, traute mir das nicht zu, hatte keine ausreichende und verlässliche Unterstützung in meinem Umfeld. Nicht zuletzt wollte ich den Standpunkt Deines Papas nicht einfach übergehen, sondern respektieren. Ich hatte das Gefühl, nicht das Recht zu haben, drei Menschen unglücklich zu machen.
    Ja, und so wurde ich irgendwann still. Ich merkte, wie ich nicht mehr kämpfen konnte. Hatte das Gefühl, alles versucht zu haben. Die Welt schien mir sagen zu wollen "Du sollst dieses Kind nicht bekommen". Ich hatte nicht den Mut, mich allein mit Dir zusammen, lieber Samuel, gegen die Welt zu stellen.
    Bis zuletzt wusste ich nicht, ob ich die Tabletten, die den Abbruch der Schwangerschaft einleiteten, tatsächlich nehmen kann. Denn ich wusste immer, dass ich keinen Zellhaufen abtreibe, sondern mein Kind.

    Ich denke täglich an Dich

    Ich habe sie genommen und weiß heute, dass ich Dich, lieber Samuel, unglaublich vermisse. Der Schwangerschaftsabbruch hat mein Leben und mich verändert. Vieles ist nicht mehr wie vorher. Mein Leben hat jetzt zwei Hälften. Ich bin Mutter geworden, ohne Dich in den Armen halten zu dürfen.
    Lieber Samuel, meine Worte sollen keine Entschuldigung sein, sondern ich möchte Dir nur erklären, wie alles kam. Bitte sei Dir gewiss, dass ich Dich unendlich lieb habe und Dich ganz fest in meinem Herzen trage. Ich denke täglich an Dich, zünde immer wieder Kerzen für Dich an und sehe Dir in Gedanken beim Aufwachsen zu.
    In Liebe, Deine Mama

    "Ich bin nicht tot, ich tausche nur die Räume, ich leb' in euch und geh' durch eure Träume" (Michelangelo)

    In dieser Serie sprechen Menschen zu Verstorbenen. Zu ihren Eltern, Geschwistern, Kindern oder Freunden. Sie sagen ihnen die Dinge, die sie ihnen zu Lebzeiten nicht sagen konnten − aus den verschiedensten Gründen.

    Die Autorin Margot Litten sprach zunächst Menschen auf Friedhöfen an. Doch schon bald meldeten sich die ersten Hörer, die selbst sehr bewegende Geschichten zu erzählen hatten. Es sind zu einem großen Teil ihre Botschaften, die in dieser Serie zu hören sind.

    Hilfsangebote zur Suizidprophylaxe und bundesweite Beratungsmöglichkeiten finden Sie hier

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