Was ich Dir noch sagen wollte (3)

"Du hast mir einen Schatz mitgegeben"

Luftballons im Wohnzimmer vor einer Party
Der Beginn der Leichtigkeit: "Wo wir diese Partys gefeiert haben, hatte ich das Gefühl, da ist mein Leben neu begonnen." © Nik MacMillan / Unsplash
Von Wolfgang · 09.12.2017
Seine Mutter war immer für ihn da, aber er konnte sie nicht ganz ernst nehmen. Erst später merkte er, wie ihre Haltung zu den Menschen ihm ein Vorbild wurde − dass sie niemanden verurteilte oder verändern wollte, dass jeder ihr willkommen war.
Jetzt vor zehn Jahren war vielleicht das letzte Mal, dass wir gut reden konnten. Und jetzt stehe ich da einfach und denk' nach. Und je mehr ich nachdenk', desto mehr meine ich, dass ich einfach noch was dir sagen möchte. Früher warst du immer für mich da und dann hab' ich mir gedacht: "Mein Gott, die Frau, die nehm' ich aber nicht ganz ernst. Die weiß ja nicht einmal das Simpelste. Die kann ja kein Englisch." Und hab' gemeint, na gut, ich mach' das auf jeden Fall besser. Ich werde auf jeden Fall nicht deine Bildung haben. Also ich möchte auf jeden Fall klug sein und nicht einfach nur vor mich hin leben. Und dann hab' ich manchmal gedacht: Mei Mutti, du verstehst ja gar nicht so richtig, was in der Welt vorgeht. Du bist eigentlich nur meine Mutter.
Und dann jetzt, wo du tot warst und wo ich jetzt praktisch selber ein bisschen an deine Stelle kommʼ, dann ist mir immer klarer geworden, dass nicht nur das, was ich weiß, toll ist, sondern du hast alle Menschen immer so genommen, wie sie sind. Und das merke ich jetzt: Das ist der Schatz, den du mir mitgegeben hast. Ich hab' immer gedacht: Mei, das ist ja ein Depp! Oder mit dem Klaus − um Gottes Willen, also das ist überhaupt nicht mein Niveau. Zuhause war jeder Mensch gleich. Und jeder Mensch, den hast du eingeladen. Und dass du niemanden verurteilt hast, das hab' ich erst jetzt vor ein paar Jahren gemerkt, was für ein toller Schatz das ist und ich hab' dir das nie sagen können. Und das möchte ich dir hiermit noch mal sagen.

Aus unserer Serie "Was ich Dir noch sagen wollte". Hier alle Folgen im Überblick

Ihr wart ja so unterschiedlich. Der Vati konnte keinen anderen Menschen aushalten. Ihr habt euch ja gestritten, weil deine Schwester nicht einmal zu Besuch kommen durfte. Dann plötzlich war er tot und ich hab' das Gefühl, wir sind alle ein bisschen auch aufgelebt. Du bist arbeiten gegangen und plötzlich haben wir Partys gefeiert! Das war ja völlig undenkbar vorher. Und wie Vati dann tot war, hast du ja auch gesagt, wie er dann gestorben war: "Wenn schon jemand hat sterben müssen, dann war es der Vati, also der Walter" − und nicht du oder einer von uns. Und ich möchte sagen, so schlimm das auch war − ich glaub', du hast das auch so empfunden − für mich war es eine echte Befreiung. Letztlich, du weißt noch, oh Gott, wir haben die Partys gefeiert ... das ganze Haus von oben bis unten. Mein Gott! Und dann die Bierleichen am Abend … Du hast nie einen Ton gesagt! Das ganze Haus war voll Gäste! Da waren 50 Leute da und du hast sie alle willkommen geheißen. Das war so undenkbar bei meinem Vater.

Plötzlich musste ich Streber werden

Aber es gibt schon noch eine andere Seite. Ab da plötzlich hast du mich in die Schule geschickt, und ich musste in diese scheiß Leistungsklasse reingehen – eine Klasse übersprungen und plötzlich war ich unter so einem Druck. Und ich hab das ja noch gar nicht verarbeitet von dem Tod. Und ab da war für mich die Schule ein Horror. Das ging so, bis ich Musik studiert habʼ. Und das tut mir zwar leid, wenn ich das dir jetzt auch so sag', aber deine Entscheidung, dass ich plötzlich da Streber werden muss und tolle Schulerfolge haben muss, das war furchtbar.
Aber es war auch so – das wollte ich dir auch noch sagen – ab dem Moment, wo ich 13, 14 war, wo wir diese Partys gefeiert haben, hatte ich das Gefühl, da ist mein Leben neu begonnen. Ich habe gemerkt, das war eine Sache, die du mal gesagt hast ... Du hast mal gesagt, im Grunde ist man wirklich letztlich ganz allein. Und das stimmt. Man ist wirklich auf der Welt allein und nur für sich zuständig und nur für sich verantwortlich.
Ich hab' immer gemeint, na ja, ich hab' ja die Kinder und Frau und alles … aber dann ist einfach mal alles zusammengebrochen. Und ich hab' das miterlebt, was du auch erlebt hast: Dass dein Partner weg ist und du plötzlich allein dastehst. Und so war es bei mir auch. Und da hab' ich oft dran gedacht, dass du gemeint hast: Naja, eigentlich ist man wirklich nur ganz allein und für sich. Und dann hab' ich plötzlich gemerkt, dass du jeden Menschen magst und ich hab' gemerkt – das hätte ich dir gerne gesagt – dass ich nie mehr einen anderen Menschen verändern und verurteilen werde.

"Ich bin nicht tot, ich tausche nur die Räume, ich leb' in euch und geh' durch eure Träume" (Michelangelo)

In dieser Serie sprechen Menschen zu Verstorbenen. Zu ihren Eltern, Geschwistern, Kindern oder Freunden. Sie sagen ihnen die Dinge, die sie ihnen zu Lebzeiten nicht sagen konnten − aus den verschiedensten Gründen.

Die Autorin Margot Litten sprach zunächst Menschen auf Friedhöfen an. Doch schon bald meldeten sich die ersten Hörer, die selbst sehr bewegende Geschichten zu erzählen hatten. Es sind zu einem großen Teil ihre Botschaften, die in dieser Serie zu hören sind.

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