Was ich Dir noch sagen wollte (1)

"Ich hätte für Dich da sein sollen"

Ein junger Mann springt von einem Sprungturm in einen See.
In den See springen: "Du warst einfach für mich da und hast mir die Angst genommen." © Tommaso Fornoni / Unsplash
Von Pia · 25.11.2017
Sie ist vier Jahre alt, als sie mit ihrem Bruder eine Mutprobe besteht. Später zieht er sich zurück, lebt in einer eigenen Welt – ohne Ankündigung beendet er sein Leben. "Du hast ziemlich viel auseinander gerissen", möchte sie ihm sagen.
Lieber Manuel, jetzt ist es schon fast zehn Jahre her, wo du uns verlassen hast. Und ich kann es immer noch nicht ganz verstehen. Du fehlst mir immer noch – mega. Ich weiß nicht, wo du bist, ob du das überhaupt hörst, ob du mich siehst, ob du mich überhaupt verstehst, aber ich wollte dich nur wissen lassen, dass es uns echt allen total schwer fällt, dass ich dich mega vermisse, dass es nicht leicht war ohne dich…
… und dass ich das total blöd finde, dass du einfach gegangen bist, ohne dich zu verabschieden!
Ich weiß, dir ging's nicht gut, du hast uns aber nie Anteilnahme haben lassen, was ich sehr schade fand, weil ich denke, wir hätten immer einen Ausweg zusammen gefunden. Aber irgendwie warst du nie für uns ansprechbar, und das finde ich sehr schade, dass wir nie darüber reden konnten, weil ich glaub', zu zweit hätten wir einen Weg gefunden.
Du warst sehr zurückgezogen und warst so in deiner eigenen Welt mit den Computerspielen und alles, hast dich eigentlich mehr und mehr von uns zurückgezogen. Wir dachten, es wäre 'ne pubertäre Phase … aber anscheinend war es das doch nicht. Anscheinend war da viel mehr und wir haben viel zu wenig reininterpretiert.

Aus unserer Serie "Was ich Dir noch sagen wollte". Hier alle Folgen im Überblick

Am schlimmsten war es immer, wenn du deine Musik laut aufgedreht hast und immer in vollem Ton mitgesungen hast und ich mich immer extrem darüber aufgeregt hab', weil es einfach immer viel zu laut war und du voll daneben gesungen hast. Dann hast du mich nur angeschrien: "Pia, jetzt sei leise! Lass mich einfach singen!"
Ich war zwar deine kleine Schwester, aber ich hätte trotzdem mehr für dich da sein sollen, ich hätte einfach mehr für dich machen sollen und dir nicht alles zuschieben sollen. Die ganzen Hausarbeiten zum Beispiel, die musstest du dann alle machen, weil ich mich immer gedrückt habe. Dass ich irgendwie mehr dabei gewesen wäre. Also ich weiß nicht, ob es was geändert hätte, aber wenigstens dass du das Gefühl hast, dass ich für dich war. Und das solltest du auch wissen, das ich eigentlich immer für dich war.

Du hast mich bei der Hand genommen

Weißt du noch, damals, wo ich zur Kommunion mein Einrad bekommen hab' und mich nie getraut hab', alleine zu fahren? Und dann sind wir zur Isar, und da hast du mir Schritt für Schritt beigebracht, wie ich am besten aufsteige, wie ich das alles mache, du hast mich an der Hand genommen, ganz fürsorglich hast du mich geführt, warst einfach für mich da und hast mir die Angst genommen.
Oder als wir mit Mama und Papa am Steinsee waren! Da war doch dieser große Sprungturm, der war drei Meter hoch, und ich stand da oben und hab' gezittert und geheult und hab' mich nicht runtergetraut mit meinen vier Jahren. Ich hab' mich nicht getraut! Da hast du mich auch bei der Hand genommen und hast gesagt: "Komm, wir machen das jetzt zu zweit, wir schaffen das!" Und ich bin einfach gesprungen und es hat funktioniert.
Ich wünschte, wir hätten solche Momente einfach jetzt immer noch und hätten sie öfter. Und dass du nicht einfach jetzt nicht mehr da bist – und ich muss irgendwie alleine versuchen, einen großen Turm zu bekämpfen, um da runterzuspringen, dass ich allein auf mich gestellt bin.

Die Eltern gehen jetzt eher getrennte Wege

Was ich dir heute noch sagen will: Ich hab' meinen Abschluss geschafft ohne deine mathematischen Künste, jetzt bin ich in einer Ausbildung und es klappt einfach super. Ich wünschte, du könntest es einfach miterleben.
Durch deinen Tod hat sich ziemlich viel bei Mama und Papa auch geändert. Die sind nicht mehr so zweisam, wie sie es mal waren. Die gehen eher jetzt getrennte Wege, achten auf sich selber halt, aber nicht mehr auf den andern. Unser Bruder hat sich auch ziemlich zurückgezogen. Der ist auch eher so ein Alleingänger geworden.
Jeder versucht, es selber zu bewältigen. Du hast schon ziemlich viel auseinander gerissen.
Ich war auch ziemlich sauer auf dich. Es gab wirklich Tage, da war ich richtig wütend, hätte dir am liebsten so eine reingehauen, wenn du vor mir gestanden wärst – einfach wegen dem, was du uns angetan hast.
Ich wünsch' dir einfach trotzdem alles Gute, dass es dir da gut geht, wo du jetzt bist, dass du das erreichst, was du möchtest – und dass es einfach läuft, so wie du es dir wünschst.

"Ich bin nicht tot, ich tausche nur die Räume, ich leb' in euch und geh' durch eure Träume" (Michelangelo)

In dieser Serie sprechen Menschen zu Verstorbenen. Zu ihren Eltern, Geschwistern, Kindern oder Freunden. Sie sagen ihnen die Dinge, die sie ihnen zu Lebzeiten nicht sagen konnten − aus den verschiedensten Gründen.

Die Autorin Margot Litten sprach zunächst Menschen auf Friedhöfen an. Doch schon bald meldeten sich die ersten Hörer, die selbst sehr bewegende Geschichten zu erzählen hatten. Es sind zu einem großen Teil ihre Botschaften, die in dieser Serie zu hören sind.

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