Was es mit den Amerikanern auf sich hat

02.07.2012
Johan Huizingas Buch "Amerika" heute - rund 100 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung - zu lesen, ist eine Art Zeitreise. Der Historiker versucht darin, die Entwicklung des damals aufstrebenden Amerikas zu erklären und tut dies auf eine noch immer spannende Weise durch eine geschickte Mischung aus Ethnographie, Soziologie, Historie, Literaturwissenschaft und Sozialkunde.
Der niederländische Kulturhistoriker Johan Huizinga hat sein Buch über Amerika 1918 veröffentlicht. Also genau zu dem Zeitpunkt, als klar wurde, dass die entscheidende Nation der Welt nicht länger Großbritannien war. Der 1. Weltkrieg hatte die Amerikaner gewissermaßen zum ersten Mal offiziell als Macht und nicht nur als Touristen oder Geschäftsleute nach Europa gebracht. Der Ausgang des Kriegs wiederum machte den Dollar zur Leitwährung des Welthandels und den Rest der insbesondere europäischen Welt allmählich zu Schuldnern der Vereinigten Staaten.

Zur selben Zeit arbeitete Huizinga an dem Buch, das ihn bekannt machte, am "Herbst des Mittelalters", einer Darstellung derjenigen Epoche also, die zur Vergangenheit der Vereinigten Staaten nicht gehörte, deren Ursprünge in der Frühen Neuzeit lagen. Sein Buch steht mithin auf einer sowohl polit-ökonomischen wie kulturellen Epochenschwelle.

In vier Essays versucht Huizinga herauszufinden, was es mit den Amerikanern auf sich hat. Der erste behandelt die Nation des rücksichtslosen Individualismus, die zugleich die Nation der Vereine, Bruderschaften, Clubs und Sekten ist. Der zweite zeigt, wie sich das Gemeinschaftsleben der Amerikaner an die Technik hingab, an die Größe von Organisationen, an Parteiapparate ohne Programme und an die Unterhaltungsindustrie. Der dritte Aufsatz geht der Frage nach, wie sich in einem Land, in dem der Geschäftssinn heilig ist, Staatlichkeit entwickelt. Und schließlich erörtert Huizinga in einem besonders interessanten Kapitel die "Wildheit" des amerikanischen Charakters: das Bestehen auf Jetzt, Hier und Gleich, die Anbetung von Gesundheit und Kraft, das gewalttätige Yankeetum.

In solche Beschreibung gehen viele Stereotypen ein. Doch nimmt man sie Huizinga nicht übel, weil er sie so veranschaulicht, dass man sieht, wie instruktiv Vorurteile sein können. Es ist ja, wie man so sagt, "etwas dran" an dem Versuch, die besondere Heldenverehrung des rücksichtslos moralischen Subjekts - als Cowboy, Richter oder Geschäftsmann -, die Lust an Protestbewegungen, oder die Bewunderung von Monopolen und riesigen Zahlen für typisch amerikanisch zu halten.

Huizinga schreibt elegant, er mischt grundsätzliche Gedanken mit der Deutung von Werbung, dem Heranziehen von Gedichten, der Lektüre von Parteiprogrammen. Sein Buch ist Ethnographie, Soziologie, Historie, Literaturwissenschaft und Sozialkunde zugleich. Einer Wertung dessen, was er in Amerika fand, enthält er sich. Man merkt, dass er ahnt, Amerika könnte die Zukunft Europas sein. Man merkt, dass er unsicher ist, ob er das möchte. So schreibt er:

"Wir, die wir die Zukunft nicht kennen, haben kein Recht, über Amerikas Ideale den Stab zu brechen."

Daran, an der Teilhabe an jenen Idealen wie am Zweifel daran, hat sich wenig geändert.

Besprochen von Jürgen Kaube

Johan Huizinga: Amerika
Aus dem Niederländischen von Annette Wunschel, mit einem Nachwort von Thomas Macho, Wilhelm Fink Verlag, München 2011, 380 Seiten, 49,90 Euro

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