Was bleibt?

Von Hans-Ulrich Wehler · 18.04.2007
Der Fall Oettinger besitzt unter mehreren Gesichtspunkten Seltenheitswert. Denn selten ist mit einem Minimum an Worten ein solches Maximum an Schaden angerichtet worden. Die Ministerpräsidenten der Bundesländer gehören zur Spitzengruppe der deutschen Berufspolitiker, aber noch nie hat einer von ihnen eine solche Unkenntnis des Dritten Reiches mit einer Mischung aus Ignoranz, Feigheit und Arroganz paradiert.
Noch nie hat einer von ihnen einen klassischen opportunistischen Mitläufer zum Gegner des Systems geadelt. Noch nie hat einer solche Feigheit gezeigt, als er zu einer umstrittenen Figur wie Filbinger Stellung bezog, und noch nie hat einer mit einer solchen Arroganz falsche Formulierungen tagelang verteidigt. Vermutlich ist auch noch nie ein Ministerpräsident von seiner Parteivorsitzenden mit so entschiedenem Druck zum Einlenken gebracht worden, wie das Oettinger durch Frau Merkel erfahren musste.

Zu diesem harschen Urteil lässt sich kurz sagen: Inzwischen müsste auch ein Politiker in der Position Oettingers wissen, dass das Dritte Reich nicht aus glühenden Nazis und einer Handvoll Widerstandskämpfer bestand, sondern dass Millionen das Regime mitgetragen haben, weil sie opportunistische Gründe und vor allem die partielle Übereinstimmung mit einzelnen Forderungen des Hitler-Regimes dazu trieben.

Filbinger gehört offenbar zu diesem Typus des Opportunisten, denn seit 1933 praktizierte er geschmeidige Anpassung. 1935 bezeichnete er Kritiker des Regimes als "Schädlinge am Volksganzen", gegen die er die "rassisch wertvollen Bestandteile des deutschen Volkes" verteidigte. Das opportunistische Arrangement brachte ihn beruflich weit genug: Als Wehrmachtsjurist blieb er vom Fronteinsatz verschont, seine Mitwirkung an Todesurteilen bewies die erwartete Funktionstüchtigkeit. Trotz aller Apologetik hat man von Zivilcourage und humanem Verhalten im Zeichen der Niederlage nichts vernommen. Selbst nach Kriegsende wurde im Gefangenenlager starrsinnig auf altem Recht bestanden, anstatt den Überlebenden pragmatisch zu begegnen.

Diesen klassischen Opportunisten zum Systemgegner zu adeln, wie das Oettinger getan hat, ist eine glatte historische Fälschung. Wenn Oettinger die Trauerrede über Filbinger übernahm, sprach er nicht an erster Stelle zur Familie, sondern während eines öffentlichen Akts, der bundesweit verfolgt wurde. Es gehörte eine ordentliche Portion Feigheit dazu, sich in dieser Situation vor jedem realistischen Urteil zu drücken, aus Filbinger einen Systemgegner zu machen und damit alle Schattenseiten seiner Existenz vor 1945 schlichtweg zu leugnen.

Da Berufspolitiker einem Kosten-Nutzen-Kalkül folgen, ist die Vermutung nicht abwegig, dass Oettinger mit seiner verfälschenden Rhetorik auch dem rechten Flügel der Südwest-CDU Wohlgefallen bereiten wollte. Die begeisterte Zustimmung des Abgeordneten Brunnhuber bestätigt dieses Kalkül. Und irritierend bleibt die dümmliche Arroganz, mit der Oettinger Tag für Tag auf seinem verfehlten Formulierungen beharrte, anstatt nach dem Debakel möglichst schnell den geordneten Rückzug anzutreten. Das alles spricht gegen sein politisches Urteilsvermögen, auch gegen die Qualität seines Beraterkreises.

Es bedurfte der resoluten Intervention von Frau Merkel, um Oettinger zum Einlenken zu bewegen. Anstatt ihr "parteischädigendes Verhalten" vorzuwerfen, wie das Jörg Schönbohm mit unerfindlicher Häme getan hat, verdient sie alle Anerkennung. Offenbar war es unvermeidbar, eine klare Grenzlinie durchzusetzen und damit weiteren schweren Schaden von ihrer Partei abzuwenden. Ob das Oettinger auch so sehen kann, nachdem er sich durch sein Verhalten, nicht nur durch seine Rede, für jedes höhere politische Amt selber disqualifiziert hat?

Hans-Ulrich Wehler, Historiker, Jahrgang 1931, ist einer der bekanntesten deutschen Historiker, auch Wissenschaftshistoriker. Er studierte Geschichte, Ökonomie und Soziologie in Köln und Bonn sowie an der Ohio University. Während seiner langen Lehrtätigkeit in Köln, Berlin und Bielefeld befasste sich Wehler vorwiegend mit der deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, vor allem seine Abhandlungen zum deutschen Kaiserreich wurden zu Standardwerken. Mit seinem bisher in drei Bänden vorliegenden, auf vier Bände angelegten Projekt einer "Deutschen Gesellschaftsgeschichte" wagte Wehler als erster Historiker den Versuch, die deutsche Geschichte seit der frühen Neuzeit unter konsequent sozialgeschichtlicher Perspektive zu schreiben. Jüngste Veröffentlichungen: "Umbruch und Kontinuität. Essays zum 20. Jahrhundert", "Historisches Denken am Ende des 20. Jahrhundert. 1945-2000", "Nationalismus. Geschichte, Formen, Folgen".