Warum gelang in Israel, was in der Sowjetunion scheiterte?

Von Irene Meichsner · 25.10.2005
Moshe Dajan, der spätere israelische Verteidigungsminister, wurde im Kibbúz Degania geboren. Arthur Ruppin, Otto Warburg und andere führende Köpfe des Zionistischen Bewegung sind dort begraben. Und dann steht noch ein ausgebrannter syrischer Panzer auf dem Gelände, er soll daran erinnern, wie tapfer sich die seinerzeit 70 Bewohner während des Unabhängigkeitskriegs im Mai 1948 mit Molotov Cocktails gegen die syrische Armee verteidigten.
Als Keimzelle aller israelischen Kibbuzím spielt Degania heute noch eine Sonderrolle; ohne den missionarischen Eifer, den die ersten Siedler entwickelten, gäbe es den Staat Israel zumindest nicht in seiner heutigen Form. Viel wurde aber auch romantisch verklärt. Zum Beispiel der Gruppenzwang, mit dem sich gerade eine Kunstausstellung in Tel Aviv kritisch auseinandersetzt: Er hinterließ bei manchem Kind, das im Kollektiv herangewachsen ist, auch seine traumatischen Spuren.

Sie träumten von einer fundamentalen Erneuerung jüdischer Kultur: die vom Zionismus beseelten jungen Leute aus Weißrussland, die im Sommer 1909 nach Palästina kamen. Einer von ihnen war Joseph Baratz, damals 19 Jahre alt; er hatte die Pogrome im russischen Reich miterlebt; in seinen Lebenserinnerungen schilderte er später, was er und seine Freunde sich vom Gelobten Land erhofften.

"Wie soll diese Nation loskommen von zweitausend Jahren der Diaspora? Wir, ein entfremdetes Volk, das keine Wurzeln im Boden hat und dem es dadurch an der Kraft zum Schöpferischen fehlt; ein Volk, das immer wie ein Schmarotzer in Städten gelebt hat - wir müssen zurückkehren zum Boden, zur Unabhängigkeit, zur Natur, zu einem erneuerten Leben, das sich in Arbeit erfüllt."

Am Südufer des See Genezareth ließ die Gruppe sich im Oktober 1910 nieder; das Gelände gehörte dem "Jüdischen Nationalfonds", den Millionen von Juden aus aller Welt durch Beiträge finanzierten.

"Wir - zehn Kameraden und zwei Kameradinnen - kamen nach 'Umm Juni'. Wir begannen mit dem Aufbau einer unabhängigen Siedlung hebräischer Arbeiter auf volkseigenem Boden, einer Genossenschaft ohne Ausbeuter oder Ausgebeutete - einer 'Kommune'."Umm Juni", der erste Kibbuz, bekam später den Namen "Degania" - ein hebräisches Wort für "Getreide".

"Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen, "
lautete das Prinzip, nach dem die so genannten Kibbuzniks Israel in den folgenden Jahren und Jahrzehnten buchstäblich den Boden bereiteten. Man lebte unter extrem bescheidenen Verhältnissen, schuftete vom frühen Morgen bis zum späten Abend, um Sümpfe trocken zu legen oder das oft karge Land fruchtbar zu machen.

"Allen lag das Wohlergehen der Gemeinschaft am Herzen ..."

erzählte Alfred Teichner, ein israelischer Hotelmanager, der 1936 von Hamburg ins Exil nach Palästina gegangen war, um sein Scherflein zum Aufbau eines jüdischen Staats beizutragen.

"... niemand dachte an ein persönliches Verdienst, an einen persönlichen Erwerb, alle waren gleich, alle erhielten dasselbe Essen und Wohnen und Kleidung und damit bereits erschöpfte sich der so genannte Erwerb."

In vielen Kibbuzim wurden sogar Kinder als Gemeinschaftsgut betrachtet und, fern von den Eltern, in speziellen Kinderhäusern groß gezogen. Die Zahl der neu gegründeten Arbeiterkollektive stieg kontinuierlich. Als David Ben Gurion 1948 den Staat Israel ausrief, lebte jeder zwölfte Israeli in einem Kibbuz. Manche kehrten ins Kollektiv zurück, nachdem sie Karriere gemacht hatten - wie der frühere israelische Botschafter Raphael Benshalom, der in seinem Kibbuz bei Natania im Landesinneren auf Reporterfragen antwortete.

"Schau‘n Sie, Der Kibbuz hat immer Aktivisten erzogen. Und Aktivisten gegeben sowohl dem Staat, dem Militär, den Gewerkschaften, den sozialistischen Parteien, gewissen Kulturinstitutionen. Der Kibbuz hat tatsächlich eine gewisse, ich möchte nicht sagen 'Elite', aber einen aktiven Kern erzogen und auch immer gegeben für die Tätigkeit in der Kibbuzbewegung selbst - in der Erziehung, in den Gewerkschaften."

Heute wohnen nur noch knapp drei Prozent der Israelis in einem Kibbuz. Sie bekommen Taschengeld, haben einen bescheidenen Urlaubsanspruch. Als soziales Experiment hat sich der Kibbuz überlebt. Doch immerhin: Er ist die einzige sozialistisch genannte Lebensform, die ohne privatkapitalistischen Anreiz wirtschaftlich erfolgreich war - anfangs mit Landwirtschaft, später auch mit einer florierenden Industrie. Warum in Israel gelang, was in der Sowjetunion scheiterte? Das habe auch der sowjetische Staatschef Michael Gorbatschow wissen wollen, verriet ein Mitarbeiter des Kibbuz "Ein Gedi" am Toten Meer.

"Er war hier sechs oder sieben Stunden - Gorbatschow. Und er hat gefragt, hat die Raissa gesagt am Ende, seine Frau hat gesagt: 'Siehst, so was wollten wir auch bei uns machen, warum ist es bei uns nicht gelungen?' Hat der Gesellschaftsverwalter gesagt: 'Weil - bei Euch hat man die Leute gezwungen, so zu leben. Und hier ist es freiwillig. Wenn es wäre bei Euch auch freiwillig, hätte es auch bei Euch gelungen.'"