Warum Bürger Fairness wollen

Wo bleibt hier die Gerechtigkeit?

Flaschensammeln - für viele Menschen eine Art Einkommen
Einkommen und Vermögen sind ungerecht verteilt - manche Menschen kommen nur mit Hilfe von Flaschensammeln über die Runden. © imago stock&people
Von Michael Meyer · 07.12.2015
Millionen Menschen arbeiten für kleine Löhne, Haus-und Erziehungsarbeit wird gar nicht entlohnt, während andere ihre Partikularinteressen durchsetzen - zuweilen zu Lasten anderer. Ist das gerecht? Und bedeutet mehr Gleichheit auch mehr Gerechtigkeit?
"Die Welt ist ungerecht, im Kleinen wie im Großen. Die einen haben wenig, die anderen haben viel."
Es ist eine Frage, die Herz und Kopf bewegt: Was ist Gerechtigkeit? Generationen von Philosophen, Theologen, Soziologen und Juristen haben sich bereits damit beschäftigt.
Liebig: "Gerechtigkeit ist auf der einen Seite die Gleichbehandlung von Menschen, aber das bedeutet nicht Gleichbehandlung in dem Sinne, dass jeder das Gleiche bekommen soll."
Reder: "Bei der Gerechtigkeit geht es zum einen um die Verteilung von Gütern, und zum anderen um die Organisation unserer Gesellschaft, unserer politischen Institutionen und Gerechtigkeit ist ein ethischer Maßstab, der versucht, einen Ausgleich zwischen vermeintlich ungerechten Verteilungen von Gütern oder Diskriminierungen beim Zugang zu Institutionen zu vermeiden."
Gerecht sein ist und bleibt der Idealzustand eines jeden Staatswesens, einer jeden Gesellschaft oder Gemeinschaft. Interessanterweise ist der englische Begriff "Justice" gleichbedeutend mit "Justiz" - hier wird bereits etymologisch Gerechtigkeit mit dem unabhängigen und ausgleichenden Justizwesen gleichgesetzt. Die römische Göttin "Justitia" war die mythische Personifizierung des Begriffs. In jedem Fall wird Gerechtigkeit meist definiert als angemessener und hoffentlich unparteiischer Ausgleich der Interessen. Schon Aristoteles beschäftigte sich mit den Fragen des gerechten Ausgleichs. Aber auch sehr viel später flammte die Debatte um das Thema wieder auf.

Wer ist für Ungerechtigkeit zu belangen?

Liebig: "Also sicherlich ist hier der entscheidende Zeitpunkt die Französische Revolution."
Sagt der Soziologe Stefan Liebig, der an der Universität Bielefeld lehrt und das Gerechtigkeitsthema empirisch erforscht. Damals ging es jedoch, getreu dem Schlachtruf "Liberté, egalité, fraternité" stark um die Verantwortlichkeit für Ungerechtigkeit, also: wer ist dafür zu belangen?
Liebig: "Die Idee eigentlich dass das, was wir vorfinden, also die Verteilung von Gütern, die Verteilung von Wohlstand, dass diese Verteilung nicht gottgewollt ist, von Gott gemacht ist, sondern dass das eigentlich das Ergebnis von Entscheidungen von Menschen ist. Also dass die Verteilungsordnung, die wir hier haben durchaus auch eine andere sein kann, wenn man sich dazu entscheidet sie anders zu machen."
Es gibt mehrere philosophische Schulen, die sich mit dem Thema Gerechtigkeit befassen. Einer der wichtigsten und einflussreichsten Forscher war der Amerikaner John Rawls. Dessen 1971 entwickelte "Theory of Justice" sei noch immer wegweisend, meint der Münchener Philosoph Michael Reder. Rawls hat im Gegensatz zu früheren Denkern nicht mehr so stark auf das Gerechtigkeitsempfinden des Einzelnen gesetzt, er war der Ansicht.
Reder: "Uns hilft diese Frage nach einer gerechten Handlung des Einzelnen in einer modernen enorm komplexen Gesellschaft nicht weiter. Sondern Gerechtigkeit zeigt sich an den Institutionen, die ein Gemeinwesen aufbaut. Und das geht dann beispielsweise um Freiheitsrechte, um die Beschränkung ökonomischer Ungleichheit, den Zugang zu Ämtern, das sind alles Fragen der Institutionen und Gerechtigkeit in dieser Schule betrifft dann diese Institutionen und die politische Gestaltung der Gesellschaft."
Menschen demonstrieren im August 2012 in Berlin für eine stärkere Besteuerung von Reichtum. 
Menschen demonstrieren im August 2012 in Berlin für eine stärkere Besteuerung von Reichtum. © picture alliance / dpa / Foto: Wolfgang Kumm

Mehr Gerechtigkeit führt zu mehr Wohlstand

Rawls erkannte aber durchaus auch die Pflichten des Einzelnen an, etwa die nach Fairness, ohne die eine stabile Gesellschaft seiner Ansicht nach nicht auskomme. Andere Wissenschaftler stellten fest: Unfaire Verhältnisse, etwa große soziale Ungleichheit, führen zu weniger Wohlstand, geringer Bildung und womöglich zu Verhältnissen, die nur noch stabil sind, wenn sie autoritär kontrolliert werden. Mehr Fairness führt also zu mehr Gerechtigkeit und mehr Wohlstand, so könnte man es knapp zusammenfassen.
Nach John Rawls kam aber auch Kritik an seiner Theorie auf: Gerechtigkeit müsse immer auch rückverbunden werden mit den vielen unterschiedlichen Wertvorstellungen, die Gemeinschaften haben, meinten die Kritiker.
Was Gerechtigkeit genau ist, darüber gehen ohnehin die Meinungen auseinander. Immer wieder werden dazu Umfragen gemacht, auch in Deutschland. So zeigt eine Befragung des Allensbach-Institutes, dass die Zahl derjenigen, die Ungerechtigkeiten sehen, in den letzten Jahren gestiegen ist. Und die Deutschen haben sehr konkrete Vorstellungen davon, was in ihrem Land ungerecht ist. Da rangiert Chancengerechtigkeit mit Abstand an der Spitze, gefolgt von Familiengerechtigkeit und Leistungsgerechtigkeit.
Deutschland scheint die Frage der Gerechtigkeit ohnehin stark umzutreiben, mehr noch als andere Länder, doch ist das wirklich so? Philosoph Michael Reder formuliert es so: Er meint, dass es Teil unseres kulturellen Selbstverständnisses ist.
Reder: "Vor dem Hintergrund auch der Erfahrungen der letzten zwei, dreihundert Jahre, haben wir gelernt, dass wir einen Ausgleich zwischen verschiedensten Gruppierungen brauchen. Und es gab immer Menschen oder Gruppen, die sich dafür eingesetzt haben. Das heißt, im Vergleich zu anderen Ländern ist bei uns eine große Sensibilität, dass die Schere zwischen Arm und Reich bei aller auch berechtigten Unterschiedlichkeit von Verteilungen nicht zu groß werden sollte. Und deswegen erscheint uns vermeintliche Ungerechtigkeit, also verdient der Vorstandsvorsitzende zu viel, vielleicht nochmal eher als ungerecht als in anderen Kulturen."
Gerechtigkeit - das werde bei uns ganz oft unter dem Aspekt der Gleichheit diskutiert, meint die Soziologin Irmhild Saake, die an der Ludwig Maximilians Universität München zu Fragen der Gerechtigkeit forscht. Die Vorstellung, je gleicher es in einer Gesellschaft zugeht, desto gerechter ist sie auch, sei tief verankert.
Saake: "Was wir jetzt als Soziologen sehen, ist, dass wir im Alltag alle zu großen Philosophen werden, die jede Situation daraufhin beurteilen, ob sie gleiche Möglichkeiten für alle bereithält. Also wir nennen das dann, dass wir eine Situation aus einer ethischen Perspektive anschauen wollen und immer wenn wir von ethisch reden im Alltag, dass wir anfangen, Unterschiede zu problematisieren."
Ein rotes Signal leuchtet vor einer Weiche.
Klein, aber mächtig: Die Lokführer-Gewerkschaft legt den Schienenverkehr lahm.© picture alliance / Bernd Thissen
Wenn die Piloten streiken oder aber die Lokführer, dann wird das von den Bürgern lange Zeit toleriert. Aber irgendwann stellen sie sich die Frage, wie gerecht ist das eigentlich, wenn privilegierte Gewerkschaften versuchen, das Maximum für ihre Mitglieder herauszuschlagen versuchen.
Umfrage: "Die Stimmung ist für mich schlecht ... kein Verständnis dafür, gerade wenn es ein Atlantikflug ist, soll ich schwimmen."
"Ich denke, dass auf Gewerkschafts- und Bahnseite der Fisch vom Kopf her stinkt."
"Ich verstehe das, aber es ärgert mich schon sehr."
Ist mehr Gleichheit, auch das Erreichen von gleichen Rechten also erstrebenswert? Irmhild Saake meint, dass wir auf viele Verhältnisse recht oberflächlich blicken.
Saake: "Die Gleichheit, mit der wir uns jetzt im Alltag so beschäftigen, das ist eine Gleichheit, die wir sehr stark auf die konkrete Situation beziehen. Wir machen im Prinzip Momentaufnahmen. Das ist aber anders als wenn man die Fragen der Gerechtigkeit stellt: Also: Wenn ich dafür mal ein Beispiel bringen darf, das wir im Alltag wahrscheinlich alle kennen: Wo der eine auf dem Sofa sitzt und ruht sich aus, und der Partner muss irgendwas putzen, staubsaugen oder sonst wie machen. Wenn man das als Momentaufnahme sieht, fällt eben auf, dass der eine faulenzen darf und der andere arbeiten muss. So sehen wir solche Situationen im Alltag dann auch oft. Aus einer etwas allgemeineren Perspektive könnte man sich auch oft fragen: Hat der eine, der auf dem Sofa sitzt, nicht vielleicht auch vorher schon viel getan, wenn man nur den Moment sieht, dann spielt es keine große Rolle. Diese Momentaufnahmen, die stehen eben für uns heute im Vordergrund."

Ungleich ist nicht gleich ungerecht

Und doch steht natürlich ein tiefliegender Wunsch nach Gerechtigkeit hinter solchen Betrachtungen. Der Schauspieler, der 1000 Euro am Tag verdient, wird beneidet, doch wie viele Einsätze hat er im Jahr? Derlei Fragen stellen wir oft nicht in solchen Momenten. Was für die meisten Menschen nicht akzeptabel ist, sind dauerhafte und nicht veränderbare Ungleichheiten. Stichwort: Chancengleichheit. Wer arm ist, muss zumindest die Chance haben, sich zu bilden, Karriere zu machen, so empfindet es die Mehrheit der Bürger.
Wir kommen in einer modernen und arbeitsteiligen Gesellschaft dennoch nicht umhin, Ungleichheiten zu akzeptieren, betont die Soziologin Saake
Saake: "Wenn mal statt des Begriffs der Ungleichheit den Begriff der Asymmetrie verwendet, dann fällt es auch jedem einzelnen viel stärker auf: Asymmetrien gibt es in jeder Situation, einer fängt an zu reden, und der andere antwortet dann und auch damit sind ja dann schon Unterschiede verbunden, ohne dem geht es überhaupt gar nicht. Asymmetrien würde man sagen, sind auch dafür da, dass wir überhaupt Lösungen finden können. Also wenn wir keine Asymmetrien hätten, es keinen Chef gäbe, es keine begrenzte Zeit gäbe, würden wir überhaupt keine Antworten finden, dann würden wir immer reden. Es ist vielleicht in erster Linie auch ein Problem der Begrifflichkeiten: Wenn wir von Ungleichheit reden, dann empfinden wir das als Problem, mit Asymmetrien können wir uns schon leichter versöhnen."
Dabei sind viele Machtverhältnisse in unserer Gesellschaft per se ungleich: Das minderjährige Kind muss sich zwangsläufig den Wünschen der Eltern beugen, der Chef kann über das Schicksal von Mitarbeitern entscheiden und Politiker haben, qua Auftrag, deutlich mehr Einfluss auf politische Entscheidungen als einfache Bürger. Doch ist das wirklich ungerecht? Da sind wir heute sehr viel sensibler, als früher, meint Irmhild Saake.
Saake: "Es ist so, tatsächlich, dass man so eine Tendenz sehen kann, auf diese Ungleichheiten sehr viel stärker zu achten, als das früher der Fall war. Wenn man sich anschaut, wie wir heute miteinander umgehen, wie auch Chefs lernen mit ihren Mitarbeitern zu reden, sich in die Mitarbeiter hineinversetzen, dann ist das schon ein großer Unterschied zu einer früheren Gesellschaft. Und was wir jetzt im Moment sehen ist, dass wir uns fragen, wie viel von dieser Gleichheit kann es eigentlich geben."
In kaum einem anderen Lebensabschnitt zeigen sich Ungerechtigkeiten, oder nennen wir es erst einmal Ungleichheiten, so stark wie im Kindesalter. Die Eltern, die Lehrer, die Familie - sie alle sind zunächst einmal stärker. Und treffen im Zweifel auch die Entscheidungen.
Grundschulkinder und die Schulleiterin singen und bewegen ihre Arme.
Kinder verfügen über einen stark ausgeprägten Gerechtigkeitssinn.© picture alliance / dpa / Patrick Pleul
Eine Grundschule im Berliner Stadtteil Kreuzberg, eine fünfte Klasse. Die Schüler sind etwa zehn Jahre alt. Und schon in diesem Alter haben sie konfliktreiche Situationen erlebt. Auch wenn einiges banal erscheint, so manch empfundene Ungerechtigkeit lässt sich in diesem jungen Alter kaum auflösen.
Kinder: "Das war in meiner alten Klasse, da habe ich mit meiner Klasse Fußball gespielt, was wir jeden Tag machen, weil ich halt da hab ich einmal keinen Pass gegeben, die anderen haben gesagt, ich wär ungerecht, obwohl das jeder da macht, dann halt durfte ich beim Ausflug nicht mitkommen, obwohl das alle Kinder in meiner Klasse machen. Das fand ich halt ungerecht. Ich habe den Lehrer ignoriert und ehrlich gesagt meine Meinung zu ihm gesagt. Er hat gesagt, trotzdem werde ich nicht mitkommen. Also als ich in der ersten oder zweiten Klasse war habe ich im Unterricht eine Mütze getragen und ich habe Ärger bekommen, dass ich die Mütze getragen habe, und sogar eine rote Karte und ich fand es richtig ungerecht, wenn andere Schlimmeres machen und bei so einer kleinen Sache hab ich Ärger bekommen und das fand ich dann schon ungerecht."
Die Schüler haben, obwohl erst zehn Jahre alt, bereits einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Das zeigt sich auch bei einem kleinen Experiment, das der Münchener Philosoph Michael Reder entwickelt hat: Die Kinder sollen einen Kuchen unter sich so aufteilen, dass möglichst gerecht jeder etwas abbekommt. Aber: die Frage ist, ob jeder den gleich großen Hunger hat, vielleicht hat er oder sie schon gegessen? Oder vielleicht sollte man doch etwas übrig lassen, falls noch jemand kommt?
Kinder: "Ich will erstmal fragen, wer alles diesen Kuchen will ... ihr müsst euch melden ... wer stopp jetzt. Wer will alles diesen Kuchen? 1,2,3,4,5,6,7,8,9. Wie viele wollen den Kuchen? Darf man sich auch zweimal melden? Was ist mit der Lehrerin?"
Vorsichtig werden die beiden Kuchen in Teile geschnitten. Und: Die Stücke sind, einigermaßen gleich groß, aber eben nur einigermaßen, manche sind größer als andere.
Kinder: "Ich habe es versucht gleichmäßig zu machen, aber dann sind zwei oder drei Stücken noch größer geworden. Also ich fände es sehr ungerecht, wenn der eine so viel hätte und der andere so viel. Also man kann es nicht alles gleich schneiden mit den Krümeln und so."

Thema Verteilungsgerechtigkeit hat gerade Konjunktur

So manche Ungleichheiten oder Asymmetrien, gerade im Hinblick auf die Verteilung von materiellen Gütern, erscheinen uns unfair und geradezu ungerecht - egal ob nun im Alter von zehn Jahren oder später im Leben. Das Thema Verteilungsgerechtigkeit hat gerade Konjunktur, nicht nur bei uns, sondern auch in den USA, wo beispielsweise der demokratische Präsidentschaftskandidat Bernie Sanders nicht müde wird, genau diese Ungerechtigkeiten zu thematisieren. Dort besitzen die obersten zehn Prozent über die Hälfte aller materiellen Güter der Vereinigten Staaten. Zeit, das zu ändern - so Sanders.
Doch auch bei uns wird verstärkt über materielle Ungleichheiten diskutiert, immer im Gepäck das vielzitierte Bild der Schere, die sich weiter auftut. Als Ausgangspunkt dürfen die 2005 beschlossenen Hartz-IV-Reformen gelten, die Bundeskanzler Schröder damals so ankündigte:
"Wir werden, meine sehr verehrten Damen und Herren, die Leistungen des Staates kürzen, die Eigenverantwortung fordern und mehr Eigenleistung von jedem einzelnen abfordern müssen."
Blick in den Wartebereich des Jobcenters Berlin-Mitte
Hartz IV - fordern, fördern und deklassieren?© dpa / picture-alliance / Peer Grimm
Diese Rede gilt fast schon als Paradigmenwechsel in der sozialdemokratischen Politik - steht sie doch für einen Umbruch in der Sozialpolitik. Und das ausgelöst von einer Partei, deren "Kernkompetenz die soziale Gerechtigkeit" ist, wie der stellvertretende Bundesvorsitzende Ralf Stegner erst im Oktober in einem Interview sagte. Sehen wir uns also in einer neu aufgeflammten Gerechtigkeitsdebatte, die seit Jahren wieder ganz neuen Zündstoff liefert? Der Soziologe Stefan Liebig von der Uni Bielefeld bestätigt das. Das Thema kommt in den Medien und im öffentlichen Diskurs bedeutend häufiger vor.
Liebig: "Kollegen haben sich einmal die Parteiprogramme der letzten Jahre angeschaut und auch dort kann man sehen, dass seit den 50er- und 60er-Jahren eine stetige Zunahme dieses Begriffs und dieser Gerechtigkeitsthematik in den politischen Programmen zu beobachten ist. Parteien reagieren ja da drauf, was das Wahlvolk möchte, von daher denke ich, sind das zuverlässige Indikatoren, dass Gerechtigkeit tatsächlich thematisch wieder in den Mittelpunkt kommt."
Warum das so ist, dazu gibt es keine gesicherten Ergebnisse. Jedoch kann man davon ausgehen, dass sicherlich die weiter aufgehende Einkommensschere ein Motiv ist.
Doch die Frage ist, wie man mehr Gerechtigkeit herstellen kann. Eine Idee hat 1962 der amerikanischen Ökonomen Milton Friedman formuliert. Die sogenannte negative Einkommenssteuer, oder auch Lohnauffüllung, wurde in den USA 1975 eingeführt und ist eine Art Aufstockermodell, es gilt noch heute. Allerdings darf man hierbei fragen, wie gerecht es eigentlich ist, dass die Allgemeinheit Niedriglöhne durch Steuermittel ausgleicht.

Ein Grundeinkommen für alle?

Ein ganz anderes Modell ist das bedingungslose Grundeinkommen, es soll ein Grundeinkommen für alle Bürger bereitstellen. Feldversuche laufen in den Niederlanden, Finnland, bald möglicherweise auch in der Schweiz. Elf verschiedene Ansätze gibt es hierzu.
Doch wenn alle Bürger, unabhängig von ihrem Hintergrund, eine Art Grundgehalt bekommen, ist das überhaupt gerecht? Ja, meint Michael Bohmeyer. Der Berliner Ex-Internetunternehmer sammelt seit letztem Jahr per Crowdfunding Geld ein fürs bedingungslose Grundeinkommen.
Die Idee: Immer wenn 12.000 Euro zusammengekommen sind, erhält ein Los-Gewinner oder Gewinnerin ein Jahr lang ein diese Grundsicherung. Und die Idee funktioniert prächtig. 24 Grundeinkommen sind durch die generöse Spenderbereitschaft anderer so bereits zusammengekommen. Bohmeyers Ansatz ist konsequent, denn durch das Losverfahren kommen auch Menschen in den Genuss dieses Geldes, die es vielleicht nicht so nötig haben. Ist das nicht ungerecht?
Bohmeyer: "Weil ich glaube, alle Menschen haben so ein Grundeinkommen verdient, ganz offen wird gesagt, ja ich brauch das nicht, gebt das mal lieber den wirklich Bedürftigen, das ist ein edler Zug, aber das ist ja genau beim Grundeinkommen der Trick, dass es alle bekommen sollten, das ist ja bei uns nicht ganz der Fall, alle Menschen sollten das bekommen, damit auch die, denen es relativ, ich sage extra relativ gut geht, erkennen können, was eigentlich noch für sie drin wäre, wenn sie nicht nur die Wahl hätten, wie sie sich zu Markte tragen, sondern auch die Frage beantworten könnten, ob sie sich überhaupt zu Markte tragen wollen."
Mittlerweile haben sich Tausende gemeldet, die gerne für zwölf Monate ein Grundeinkommen haben möchten - aber, so das Prinzip - nur wenige können wirklich eines bekommen. Eine der frühen Unterstützerinnen der Idee ist Bernadette Hengst. Die Berliner Musikerin, Songschreiberin und Theaterregisseurin ist von der Utopie eines für alle gleichen Grundeinkommens fasziniert. Deshalb spendet sie regelmäßig für Michael Bohmeyers Projekt. Hofft aber auch irgendwann selbst so ein Grundeinkommen zu gewinnen.
Streikende Erzieher im Mai 2015 in Gießen
Die Arbeit ist wichtig, das Gehalt gering: ErzieherInnen fordern mehr Geld.© dpa / picture-alliance / Arne Dedert
Hengst: "Auch gerne für mehrere Jahre oder für immer. Ich bin schon ein utopisch denkender Mensch, ich möchte nicht immer nur im Hier und Jetzt denken, wie räume ich den Dreck weg, sondern wie kann ich in der Zukunft mein Leben so gestalten, dass es für alle Menschen schöner wird und erträglicher wird. Und als ich als Künstlerin in einem wie ich es immer bezeichne selbstgewählten Prekariat bin natürlich auch, ich muss wahnsinnig flexibel und mobil sein, um meinen Lebensunterhalt überhaupt bestreiten zu können. Das ist schon sehr anstrengend auf Dauer, obwohl es selbstgewählt ist. Da würde sowas wie ein Grundeinkommen natürlich helfen, so eine Grundfinanzierung für die Miete oder Krankenversicherung zu haben."
Und klar ist auch: Wer eine solche Grundunterstützung bezieht, kann im Prinzip damit machen, was er oder sie will - es würden keine Vorgaben gemacht. Bernadette Hengst hat damit keine Probleme, sie findet, das sei sogar Idee des Ganzen.
Hengst: "Es würde halt wirklich komplett auch das gesellschaftliche Selbstverständnis, was ist bezahlte Arbeit, was ist unbezahlte Arbeit und wie viel ist das in dieser Gesellschaft wert, umkrempeln und das interessiert mich dabei sehr."
Bernadette Hengst beschäftigt sich mit den gesellschaftlichen Missständen und ihrer eigenen Rolle als freischaffende Künstlerin auch musikalisch, erst jüngst wieder auf ihrem neuen Album "Save the world with this melody". Einer der Songs handelt davon, dass man nicht jedes Angebot nur des Geldes willen annehmen sollte.
Hengst: "Das Leben ist ein tiefer Fluss, den ich durchqueren muss - ich habe Angst vor der Bequemlichkeit - und vor der Zeit und vor dem, was ich wirklich will - anstatt den ganzen Tag nur das zu machen, was ich machen soll - zurück zu deinem Angebot - ich nehm's nicht wahr zur Not, es ist zu schlecht bezahlt - und für sowas bin ich längst zu alt - und es hat nichts zu tun mit meinem Leben - genau deswegen sage ich: Nein, Nein, Nein, Nein ..."

Wäre ein "Bildungskredit" eine Alternative?

Das Grundeinkommen ist jedoch nicht die einzige Idee, die den Blick auf unser Arbeits- und Berufsleben ändern könnte. Eine andere Idee ist die des sogenannten "Bildungskredits". Der Staat legt dabei für jeden Bürger schon bei der Geburt Geld auf die hohe Kante, spart eine gewisse Summe an, und später kann dieses Geld abgerufen werden. Allerdings zweckgebunden, für Weiterbildungsmaßnahmen, ein Studium, eine Ausbildung oder aber für die Pflege von Angehörigen oder Ähnliches. Wäre das gerecht?
Steffen Mau ist Makro-Soziologe an der Humboldt Uni Berlin und hat das Modell weiterentwickelt. Mau sagt, dass zumindest einige unvorhersehbare Lebensereignisse mit einem solchen Modell abgefedert werden könnten.
Mau: "Ich sage, dieses Modell muss universell sein, alle sollen die gleichen Rechte haben, weil wir nicht wissen, wie die Lebensverläufe von Menschen aussehen werden. Wir können nicht projizieren, welche Risiken jemand im Lebensverlauf hat, wann auch bestimmte Bedarfslagen entstehen, und ich möchte das sozusagen bis zum 20. Lebensjahr eine bestimme Summe auf ein Anrechtskonto das nenne ich den Lebenschancenkredit eingezahlt wird, jedes Jahr 1000 Euro, man kann auch andere Summen nennen, aber es ist ein Beispiel dafür und man hat dann die Möglichkeit von diesem Lebenschancenkredit für spezifische und vordefinierte Zwecke für Bildung und die Gewinnung von Zeitsouveränität und auch für die Kompensation spezifischer Risiken im Lebensverlauf, die die normalen Sozialleistungssysteme eben nicht hinreichend abfedern, diese Summe dafür zu verwenden."
Nach Maus Modell kann man dieses Guthaben aber auch stehen lassen dadurch wächst es - und könnte dann, wenn man diesen Kredit nicht nutzt, in die Rente einfließen. Steffen Mau betont, dass es ihm wichtig ist, dass alle Bürger gleichermaßen Zugang dazu hätten.
Mau: "Warum? Ein Erbe bekommen Sie im Durchschnitt, wenn Sie Mitte 50 sind, da sind die meisten Leute schon etabliert, viele auch saturiert, das heißt, Sie kriegen eine Erbschaft häufig, wenn Sie sie gar nicht mehr brauchen. Bei diesem Lebenschancenkredit, den können Sie natürlich viel besser über Ihren Lebensverlauf hinweg im Sinne von Vermehrung von Lebenschancen und Optionen selber steuern und ihn abrufen, wenn Sie ihn wirklich brauchen."
Ein Senioren-Paar sitzt auf einer Bank und schaut auf das im Watt.
Armut im Alter - davon sind vor allem Frauen betroffen.© dpa / picture alliance / Christian Charisius

Gleiche Arbeit für weniger Geld

Bezahlt werden könnte all dies aus der Erbschaftsteuer: In Deutschland steht einem geschätzten Erbschaftsvolumen von 250 Milliarden Euro im Jahr 5,5 Milliarden Euro Erbschaftssteuer gegenüber. Da wäre noch Luft nach oben, um ein Modell wie das des Lebenschancenkredits zu bezahlen.
Nun ist eine der wesentlichen Gerechtigkeitsfragen auch jene nach der Bezahlung von Arbeit, die in unserer Gesellschaft weniger gut angesehen, bzw. entlohnt wird. Der Lebenschancenkredit könnte temporär das ein wenig verbessern helfen. Aber strukturell wird auch er nicht helfen: Pflegeberufe, soziale Berufe, auch Hausarbeit werden noch immer schlecht oder gar nicht bezahlt. Von diesem Umstand sind überproportional Frauen betroffen. Die sogenannte feministische Ökonomie befasst sich seit Jahrzehnten mit Modellen, die versuchen, das zu ändern. Gisela Notz ist Soziologin, hat für die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung gearbeitet und beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit Fragen der gerechten Bezahlung von Frauen - eines ihrer Grundthemen ist der sogenannte "gender pay gap" - also jener Anteil weniger Lohn und Gehalt, den Frauen im Vergleich zu Männern erhalten.
Notz: "Das ist natürlich auch total ungerecht, dass Frauen selbst wenn sie die gleiche Arbeit machen selbst in Führungspositionen immer noch weniger verdienen, da gibt es überhaupt keinen Grund dazu, sie sind genauso gut ausgebildet wie Männer und da muss sich unbedingt was tun."
Gisela Notz hat selbst keine eigene Theorie entwickelt, wie eine bessere, gerechtere Bezahlung aussehen könnte, sie analysiert, welche Modelle diskutiert werden und welche funktionieren könnten. Notz plädiert für neue Arbeitsmodelle, die assoziativ, kollektiv und demokratisch organisiert sind - auf diese Weise könnten ungerechte Bezahlungsmodelle überwunden werden.
Notz: "Ich plädiere ja immer dafür, dass man den Blick auf die ganze Arbeit nimmt, das heißt die Arbeit, die jetzt bezahlt geleistet wird und die unbezahlt geleistet wird, und dass beide Arbeitsbereiche anders verteilt werden sollen, auf mehr Menschen auch. Da braucht man wieder kürzere Arbeitszeiten und auf beide Geschlechter. Die Arbeit muss auch anders bewertet werden, es gibt überhaupt kein Grund, dass eine Erzieherin weniger verdient als ein Computerfachmensch, nur weil sie mit Menschen umgeht und er mit Geräten, und diese Ungerechtigkeit führt auch dazu, dass der Pension Gap 60 Prozent beträgt. Also Frauen kriegen einfach 60 Prozent weniger Renten als Männer."

"Die Ungleichheiten werden zunehmen"

Die Frage nach einer gerechten Gesellschaft wird, davon kann man ausgehen, weiterhin aktuell bleiben. Vielleicht wird sie sogar noch drängender werden.
Fragen wie die nach der Chancengleichheit: Welches Kind bekommt welche Chancen und Möglichkeiten, werden kaum von der Agenda verschwinden.
Ebenso werden Fragen der Verteilungsgerechtigkeit aktuell bleiben - leben wir weiterhin auf Kosten der ärmeren Länder? Wie viel Teilhabe gestehen wir den Einwanderern zu? All das wird uns weiterhin beschäftigen, prognostiziert der Soziologe Stefan Liebig.
Liebig: "Wir führen die Gerechtigkeitsdebatten ja auch, weil es Ungleichheiten gibt, und diese Ungleichheiten werden nicht abnehmen, sondern sie werden noch zunehmen. Deswegen ist die Frage immer: Ist diese Ungleichheit, die wir jetzt hier haben gerecht, ist sie legitim? Oder eben nicht. Ich glaube, worüber wir reden müssen, ist: Wie viel Ungleichheit wollen wir? Und alle anderen Debatten führen glaube ich zu überhaupt nichts, weil wir das nicht realisieren können. Von daher eher so ein pragmatischer Umgang mit dieser Ungleichheit, die wir haben. Und auch ein Verständnis von Gerechtigkeit, was eben nicht ständig an diesem Gleichheitsideal orientiert ist, sondern eben genau diese Ungleichheit als ernst und auch in manchen Bereichen oder in vielen Bereichen dann eben auch gerecht ansieht."
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