Warum Brüssel für Gläubige immer wichtiger wird

Moderation: Anne Françoise Weber · 09.07.2011
Die EU schafft zwar kein einheitliches Religionsrecht für ihre Mitglieder, aber sie bestimmt über wichtige Rahmenbedingungen. Das sagt Antonius Liedhegener, Assistenzprofessor für Politik und Religion an der Universität Luzern.
Anne Françoise Weber: Die Regelungen der Europäischen Union spielen eine immer größere Rolle für Wirtschaft und Politik, auch in Deutschland. Finanzhilfe für Griechenland, Flüchtlingspolitik und Agrarsubventionen sind nur einige Beispiele, bei denen die Minister der mittlerweile 27 Mitgliedsländer nach gemeinsamen Positionen suchen. Was die Religion angeht, hatte man bisher allerdings eher den Eindruck, jedes Land würde sein eigenes, national sehr unterschiedliches Süppchen kochen – vom strengen Laizismus in Frankreich bis zum Religionsunterricht an staatlichen Schulen in Deutschland.

Doch es gibt durchaus eine europäische Religionspolitik, einiges ist sogar festgeschrieben im Grundlagenvertrag der EU. Wird die Union von der Wirtschaftsgemeinschaft zur Wertegemeinschaft? Mit solchen Fragen befasst sich an diesem Wochenende eine Tagung der Evangelischen Akademie Berlin. Mit dabei ist auch Antonius Liedhegener, Assistenzprofessor für Politik und Religion an der Universität Luzern. Ich habe vor der Sendung mit ihm gesprochen und ihn zunächst gefragt, ob angesichts der nationalen Besonderheiten eine gemeinsame Religionspolitik nicht von vornherein zum Scheitern verurteilt ist?

Antonius Liedhegener: Da muss man sozusagen erst mal schauen, was gemeinsame Religionspolitik denn sein könnte. Was wir feststellen in den letzten Jahren, ist, dass die Europäische Union als Akteur in relevanten Bereichen für Religion immer wichtiger geworden ist, und ich denke, man wird nicht erwarten können, dass die Europäische Union quasi ein einheitliches Religionsrecht in ihrem Kontext, also für alle 27 Mitgliedsstaaten macht. Aber die Europäische Union beeinflusst viele Dinge, die für Religionen und Religionsgemeinschaften, Kirchen interessant sind, und sie hat in den letzten Jahren sich deutlich fortentwickelt von einer wirtschaftlichen Gemeinschaft zu einer politischen Gemeinschaft, und das hat Konsequenzen.

Weber: Was sind denn diese Bereiche, wo die Europäische Union schon mitredet?

Liedhegener: Einmal muss man sagen, dass die Europäische Union grundsätzlich so angelegt ist, dass die Fragen, die das Verhältnis von Staat und Religionsgemeinschaften betreffen, in der einzelstaatlichen Kompetenz liegen. Das ist geregelt über das Subsidiaritätsgebot, was mit dem Vertrag von Maastricht festgeschrieben worden ist zum ersten Mal. Dann wird man aber sagen, dass mit der Entwicklung der Europäischen Union von einem eher wirtschaftlich orientierten Staatenzusammenschluss zu einem politischen System, nicht gerade einer Demokratie, aber einem politischen System mit teilweiser demokratischer Legitimierung – mit der Entwicklung ist der rechtliche Rahmen der Union im Bereich der Grundrechte zum Beispiel auch relevant für die Mitgliedsstaaten auch in religiöser Hinsicht. In dem Sinne ist das politische System der Europäischen Union weltanschaulich neutral und es garantiert die Religionsfreiheit individuell wie korporativ und kollektiv.

Weber: Und in ganz konkreten Regelungen, zum Beispiel der Sonntagsruhe?

Liedhegener: Ja, da muss man jetzt sozusagen noch mal einen Zwischenschritt einschalten, weil ich habe bisher über das Primärrecht der Europäischen Union gesprochen, und in dem Bereich haben wir es mit Rahmenregelungen zu tun, die für Religionsgemeinschaften wichtig sind, und deswegen interessieren sich Religionsgemeinschaften auch für den Kontakt zur Europäischen Union. Die von Ihnen angesprochene Frage des Sonntagsschutzes, das sind lauter Phänomene und Themen und politische Problemzusammenhänge, die im Bereich des Sekundärrechts der Europäischen Union liegen, das heißt, es werden Regelungen aufgestellt, die indirekt für Religionsgemeinschaften oder für die Ausübung von Religionen relevant sind und insofern dann eben auch Berücksichtigung finden müssen, was die verschiedenen Interessen angeht.

Weber: Sie haben es schon angesprochen, die Religionsgemeinschaften suchen den Kontakt zur EU, es gibt da diverse Organisationen, die in Brüssel angesiedelt sind und Lobbyarbeit versuchen. Es ist auch im Vertrag von Lissabon festgelegt, dass die EU einen offenen und regelmäßigen Dialog mit den Kirchen fühlen soll, das klingt aber doch ziemlich schwammig. Gibt es denn da konkrete Erfolge?

Liedhegener: Man muss erst mal sehen, dass mit dem Vertrag von Lissabon und mit dem heutigen Artikel 17 der Arbeitsweise der Europäischen Union, im Vertrag der Arbeitsweise der Europäischen Union festgelegten Artikel 17, dass mit diesem Artikel 17 so etwas wie eine förmliche Anerkennung im Rahmen des Primärrechts der Union von Religion als relevant für die Europäische Union stattgefunden hat.

Weber: Das ist schon mal ein wichtiger Schritt.

Liedhegener: Das war erst mal sozusagen ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer vertieften politischen Gemeinschaft. Und diese Anerkennung ist sehr differenziert ausgefallen. Es wird von Religionsgemeinschaften gesprochen, die Kirchen werden explizit angesprochen, aber auch weltanschauliche Vereinigungen und Verbände, also auch Vertreter von humanistischem Gedankengut, die sich organisieren, sind mit abgedeckt, und im Absatz 3 dieses Artikels ist geregelt, dass es diesen angesprochenen konstruktiven Dialog, strukturierten Dialog geben soll.

Weber: Jetzt haben wir über die Kirchen gesprochen, wie ist es denn mit dem Islam, gibt es da auch einen Dialog oder gibt es da auch das Problem des fehlenden Ansprechpartners, was man ja in Deutschland so oft zitiert?

Liedhegener: Da muss man zuerst sagen, dass man in den letzten Jahren eine enorme Ausweitung der religiös vertretenen Interessen auf europäischer Ebene erlebt hat und die Europäische Union sozusagen von sich aus nicht definiert, was Religion ist, sondern sie sagen, wer in den Mitgliedsstaaten aktiv ist, kann auf der europäischen Ebene sich zu Wort melden und an diesem offenen Dialog in geeigneter Art und Weise teilnehmen. Und so hat man eben den Effekt, dass als letzte größere Religionsgemeinschaft im europäischen Kontext sich verschiedene muslimische Organisationen und Verbände auch auf der europäischen Ebene melden und dort in diesen Dialog mit einbezogen werden.

Weber: Wenn nun ein mehrheitlich muslimisches Land der EU beitreten würde – also das Gespräch ist natürlich über die Türkei, aber auch Bosnien-Herzegowina und Kosovo –, würde das etwas ändern oder ist im Grunde eben wegen dieser Offenheit damit auch schon das Terrain vorbereitet?

Liedhegener: Man muss natürlich sagen, dass im Zuge der Erweiterung, die schon stattgefunden hat, und dem weiteren Beitritt weiterer Kandidaten, die eben unter der Bedingung, dass die Türkei die Beitrittskriterien erfüllen würde, ein großes muslimisches Land mit in die Union reinbringt, dann wird einfach erst mal empirisch die Spannweite dessen, was Religion ist, sehr viel größer. Rein von der jetzt bestehenden Strukturen- und Institutionenordnung auf der EU-Ebene ist es aber grundsätzlich kein Problem. Die EU wäre auf so etwas vorbereitet im Prinzip.

Weber: Die Spannweite ist ja auch schon relativ groß, also vielleicht sind noch nicht so viele Muslime da, aber die gibt es ja auch schon als Bevölkerung in verschiedenen Ländern. Es gibt durch die letzten Beitritte auch vermehrt orthodoxe Christen, es gibt auch vermehrt Konfessionslose, und gleichzeitig sind aber ja auch noch mal christlichere Staaten der EU beigetreten, Beispiel Malta, wo 85 Prozent der Bevölkerung mindestens einmal im Monat in den Gottesdienst gehen - davon träumen natürlich hiesige Kirchenleute nur. Wie verschiebt sich dann so was? Wenn jetzt zum Beispiel Kroatien noch beitreten würde - das scheint ja relativ absehbar zu sein -, das ist ein ziemlich katholisches Land - ändert sich da was in der Ausrichtung der EU?

Liedhegener: Da muss man natürlich erst mal sagen, dass eine Gemeinschaft, die 27 Mitgliedsstaaten zählt, von sehr unterschiedlicher Größe mit einem gewichtigen Zentrum in Mitteleuropa, von Polen über die Bundesrepublik Deutschland nach Frankreich, Großbritannien mit gewissen Einschränkungen, die hat Beharrungskräfte. Und von daher wird man also erst mal vermuten, dass sich von heute auf morgen keine großen Veränderungen ergeben. Es kommt zweitens hinzu, dass alle Interessenvertretungen oder Repräsentanten von Organisationen die Erfahrung machen, dass sie, wenn sie eingebunden sind in die Entscheidungsprozesse der Europäischen Union, sich sozusagen in ihrer Arbeitsweise und ihren Überlegungen auf die Politikposition der Europäischen Union zubewegen, und das heißt, dass zum Beispiel die kroatische Bischofskonferenz über den Zusammenschluss der europäischen Bischofskonferenzen mit in das Konzert der verschiedenen Stimmen integriert würde, und das heißt, auf diese Art und Weise gibt es so etwas wie ein Lernen von EU-kompatiblen Verhaltensweisen, und das wird der wahrscheinlichere Weg der Dinge sein.

Weber: Einen Gottesbezug gibt es ja nun nicht im EU-Grundlagenvertrag, darüber wurde heftig gestritten. Es gibt einen Verweis auf das religiöse Erbe Europas, der ist aber interessanterweise in unterschiedlichen Sprachen etwas unterschiedlich formuliert. Auf Deutsch ist da explizit von einem religiösen Erbe die Rede und auf Englisch von einem "spiritual and moral heritage", also einem spirituellen und moralischen Erbe, wenn man das so übersetzen kann. Ist das vielleicht doch ein Hinweis darauf, dass man im Grunde da nie auf eine gemeinsame Sprache kommen wird, weil einfach völlig unterschiedliche Nationalkulturen dem zugrunde liegen?

Liedhegener: Bei dieser Frage geht es ja um die Ausgestaltung der Präambel, also der feierlichen Einleitung, rechtlich nicht relevanten Teile des EU-Vertrages, und in der Tat stoßen da die verschiedenen Traditionen der Zuordnung von Staat und Religion, Staat und Kirche aufeinander, und ein Gottesbezug, wie er von deutscher Seite zum Teil gewünscht wurde, aber auch von anderen Staaten, vor allem katholischen Staaten, geht sicherlich nicht in der Art und Weise konform mit dem Laizismus, der laïcité, wie es die französische Nation seit 1905 hat. Und das waren harte Verhandlungen im Verfassungskonvent, aber auch schon bei der Charta über die Grund- und Menschenrechte in der Europäischen Union.

Es hat sich aber gezeigt, dass eben die Mitgliedsstaaten in der Lage sind, über diese Dinge zu reden und sich auszutauschen und auch Kompromisse zu finden, und einen der Kompromisse haben Sie angesprochen. Ich denke, die symbolische Ebene und dieser Austausch ist wichtig gewesen, deckt sich auch sicherlich nicht ganz mit den historischen Bedeutungen des Christentums in der Geschichte Europas, ganz klar, aber auf der anderen Seite muss man es eben als Teil einer Lösung sehen, die im Lissabon-Vertrag festgelegt worden ist, und dann wird man eben auf der anderen Seite sehen, dass sozusagen, was auf der symbolischen Ebene für die Gemeinschaft etwas heruntergespielt worden ist, eben auf der anderen Seite die Einbeziehung der Religionsgemeinschaften in die EU als eine politische Struktur mit eigenem Willensbildungsprozess, das kompensiert sich eigentlich.

Weber: Vielen Dank, Antonius Liedhegener. Sie sind Professor für Politik und Religion an der Universität Luzern und Mitorganisator einer Tagung der Evangelischen Akademie Berlin zur europäischen Religionspolitik an diesem Wochenende!

Die Äußerungen unserer Gesprächspartner geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.