Warntag 2020

Probealarm für neue Gefahrenlagen

07:07 Minuten
Ein orange angemalter Lautsprecher an einer orangenen Wand.
Bundesweit heulten die Sirenen heute zur Probe. © Unsplash / Oleg Laptev
Frank Biess im Gespräch mit Stephan Karkowsky  · 10.09.2020
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In der Nachkriegszeit stieß der Zivilschutz in der Bundesrepublik lange auf Skepsis, sagt der Historiker Frank Biess. Der Probealarm in der Coronakrise könne die Menschen für neue Gefahren sensibilisieren und zur Mitwirkung einladen.
Heute, am 10. September 2020, um 11 Uhr wurde es vielerorts laut: In weiten Teilen des Landes haben die Sirenen geheult - aber nur zur Probe für den Katastrophenfall. Zu den zentralen Aufgaben von Katastrophenwarnungen gehöre es, Gefahren und Risiken realistisch zu kommunizieren, sagt der Historiker Frank Biess, der in den USA europäische Geschichte lehrt und Autor des Buches "Republik der Angst" ist.
Die Zivilschutzmaßnahmen seien in der Bundesrepublik lange Zeit sehr umstritten gewesen. Viele Deutsche hätten schon in der NS-Zeit die Erfahrung gemacht, dass der Staat nicht in der Lage war, sie vor Bombardierungen zu schützen.
Deutschland habe sich dann lange an der vordersten Front des Kalten Krieges befunden. Losgegangen mit dem Zivilschutz sei es im Jahr des Mauerbaus 1961. "Da hat die Bundesregierung die erste Zivilschutzbroschüre an alle westdeutschen Haushalte versandt", sagt Biess.
"Diese Broschüre hatten den wunderbaren Titel: Jeder hat eine Chance." Viele Deutschen hätten zunächst gedacht, es handele sich um Lotto-Werbung, mussten aber dann feststellen, dass sie auf einen Atomkrieg vorbereitet werden sollten.
"In dem Fall ging die Kampagne nach hinten los", sagt der Historiker. Diese Broschüre habe die Ängste eher aktiviert, statt sie einzudämmen, auch weil sie die Gefahr verharmlost habe. Es habe ein berühmtes Bild gegeben, bei dem man sich die Aktentasche über den Kopf ziehen sollte, um sich vor Atomwaffen zu schützen. "Das war natürlich ein Sicherheitsversprechen, das nicht geglaubt wurde."

Sicherheitsversprechen der USA

Das Sicherheitsgefühl habe sich deshalb erst durch andere Faktoren eingestellt, insbesondere mit dem Sicherheitsversprechen der US-Regierung. "Als sich John F. Kennedy dann 1963 vor das Schöneberger Rathaus gestellt hatte und gesagt hat: Ich bin ein Berliner."
Da sei klar gewesen, dass die USA für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland eintreten würden, so Biess. "Daran hat sich bis heute nicht viel geändert." Allerdings verbreite der jetzige US-Präsident Donald Trump eher Unsicherheit.

Neue Gefahrenlage heute

Der heutige Probealarm sei ein Indiz für eine neue Gefahrenlage, bei der es nicht allein um Kriegsgeschehen, sondern eine ganze Palette von Katastrophenszenarien gehe, sagt Biess. Es gehe auch darum, bei der Bevölkerung eine gewisse Sensibilität zu wecken sowie eine Bereitschaft zur Mitarbeit und zum Selbstschutz. Der Zivilschutz habe immer davon abgehangen, dass die Bevölkerung mitwirkt.
Das zeige sich jetzt in der Coronapandemie, in der kein Staat kontrollieren könne, ob auch alle Masken tragen. "Letztendlich ist der Staat auch abhängig von dieser Kooperationsbereitschaft der Bevölkerung", sagt der Historiker. Deshalb sei so ein Warntag in Zeiten einer Pandemie wahrscheinlich ein guter Moment, um ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass Katastrophen möglich sind und unerwartet eintreten können.
(gem)
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