Wahrheit im Diskurs

Moderation: Maike Albath · 14.06.2009
Der Philosoph und Sozialwissenschaftler Jürgen Habermas wird am Donnerstag 80 Jahre alt. Bei Suhrkamp liegt aus diesem Anlass jetzt eine neue fünfbändige Sonderausgabe seiner wichtigen Bücher vor. Über das Wirken Habermas' ein Gespräch mit der Potsdamer Juristin und Soziologin Sibylle Tönnies.
Deutschlandradio Kultur: Zu Gast im Studio ist Sibylle Tönnies, Juristin und Soziologin. Sie lehrt Rechtsphilosophie und Völkerrecht an der Universität Potsdam. Zuletzt erschien von ihr das Buch "Cosmopolis Now". Mit Sibylle Tönnies wollen wir einen Rückblick auf die Errungenschaften von Habermas unternehmen und auch über seine Rolle diskutieren, die er für die Bundesrepublik bis heute spielt. Guten Tag, Frau Tönnies.

Sibylle Tönnies: Guten Tag, Frau Albath.

Deutschlandradio Kultur: Frau Tönnies, bestimmte Begriffe aus dem Habermasschen Werk, mir fallen zum Beispiel ein "Erkenntnisinteresse" oder "kommunikative Vernunft" oder auch "Verfassungspatriotismus", das ist ursprünglich ein Begriff von Dolf Sternberger, der aber von Habermas dann mit Inhalt gefüllt wurde, sind eigentlich Teil unserer Diskussionskultur geworden. Können Sie seine Wirkung umreißen?

Sibylle Tönnies: Die Wirkung ist tatsächlich erstaunlich, wenn man betrachtet, aus wie viel verschiedenen und zum Teil auch divergierenden Elementen sein Werk zusammengesetzt ist. Es wird unmöglich sein, etwas Zusammenfassendes über ihn zu sagen. Er kann nur gewürdigt werden als jemand, wie Sie schon sagten, der an allen Diskussionen teilgenommen hat. Aber es ist nicht möglich, zusammenfassend eine Idee von ihm zu kennzeichnen.

Aber wenn Sie fragen, welches seine Wirkungsgeschichte ist, dann würde ich doch einen Begriff herausgreifen wollen. Das ist der Begriff "Diskurs". Habermas steht für den Begriff "Diskurs", auch der Begriff "Kommunikation", den Sie nannten, überschneidet sich ja weitgehend mit Diskurs. Das ist das, was Habermas tatsächlich heraushebt, ohne dass das eigentlich eine Idee ist. Aber es hat doch eine große Wirkung gehabt. Dass das miteinander Sprechen innerhalb der 70er-, 80er-, 90er-Jahre, in den 30 Jahren, 40 inzwischen wohl, in denen Habermas so einflussreich ist, dass die Idee des Diskurses und der Kommunikation so in den Mittelpunkt getreten ist, war insbesondere in Deutschland doch sehr bedeutend, wo man zunächst sehr stark auf Waffen gesetzt hat.

Aber auch die marxistisch beeinflusste Generation, auf die Habermas ja sehr großen Einfluss hatte, setzte auch nicht darauf, dass man verhandelt, dass man Kompromisse schließt, dass man kommuniziert, sondern sie wollte im Grunde eine ganz rigorose, die marxistische Theorie durchpeitschen, die meint, dass sich automatisch und von allein ein neuer Gesellschaftszustand ergeben wird, nämlich der Sozialismus, der aus dem Kapitalismus hervorgehen wird. Da war man auch bereit zu Waffen zu greifen.

Deutschlandradio Kultur: Da war Habermas dann doch sehr kritisch, auch schon sehr früh hat er das gekannt. Ich erinnere daran, dass er 1967 bereits festgehalten hat, als er Rudi Dutschke erlebt hat, dass diese Haltung dazu führt, dass es eine Form von Linksfaschismus gäbe. Also, Kommunikation bedeutet bei ihm auch immer Widerspruch. Das ist mit eingebunden. Kommunikation bedeutet auch, dass man zu einem Begriff der liberalen Öffentlichkeit kommt, in der man ich verständigt und dann zu einem Konsens findet. So scheint mir das bei Habermas zu sein. Da ist er doch auch gegenüber dieser Linken sehr in Opposition gegangen?

Sibylle Tönnies: Da haben Sie recht. Insofern hatte er damals ein Profil. Das Erstaunliche ist im Grunde, dass er damit Einfluss auf die Linke bekommen konnte. Denn es gab ja viele Stimmen, die vor der Radikalität der Linken mit ganz ähnlichen Argumenten gewarnt haben, vor dem Fundamentalismus. Aber das Erstaunliche ist, dass Habermas von den Linken akzeptiert wurde - mit Hilfe seiner Diskurstheorie, die, nebenbei gesagt, von niemandem verstanden wurde. Das Prestige, was Habermas als Angehöriger der Frankfurter Schule in dieser Tradition Adorno, Horkheimer usw. hatte, hat dazu geführt, dass von ihm das angenommen werden konnte, was man sich von anderen nicht sagen ließ, dass man Kompromisse schließen soll.

Deutschlandradio Kultur: Und dass man immer wieder auf die Institutionen zurückkommt, ist ja auch ein Moment seiner "Theorie des kommunikativen Handelns", die 1981 erschienen ist. Er hat ja auch immer weiter an dieser Theorie gearbeitet und alle möglichen Entwicklungen genommen. Und er hat - Sie sagten es schon - sich immer wieder sehr kämpferisch und streitlustig zu Wort gemeldet und auf Widersprüche hingewiesen und auch durchaus unpopuläre Positionen eingenommen.

Ich erinnere auch an sein Wort über die Postmoderne, das ich sehr interessant fand. Schon 1980 hat er auf konservative Elemente in der Postmoderne und auf die Beliebigkeit hingewiesen. Auch darin besteht eine Gefahr. Da, denke ich, ist er doch gar nicht so sehr Mainstream. Sie haben ein bisschen angedeutet, als wäre er vereinnahmt worden. Er hat doch auch immer wieder versucht, das Ganze in einer kritischen Selbstreflexion zu durchbrechen, was ja ein Moment seiner Theorie ist.

Sibylle Tönnies: Er ist ja selber ein Teil der Postmoderne insofern, als sich aus seiner Theorie auch keine festen Werte herleiten lassen. Diesem anything goes gehört er ja an, obwohl das bei ihm nicht so offensichtlich ist. Aber die Behauptung, dass es keine Wahrheit gibt, es sei denn, sie sei in einem Diskurs entstanden, in einer Prozedur, in der Menschen miteinander diskutieren und dann letzten Endes zu einem Konsens kommen, ist ja doch eine sehr einschneidende Theorie, wenn man sie ernst nimmt. Sie ist die Leugnung einer objektiven Wahrheit.

Deutschlandradio Kultur: Ich würde Sie gerne noch nach Niklas Luhmann fragen. Das ist sein großer Gegenspieler. Eigentlich existiert gerade Habermas immer auf Begriffen wie Moral und Vernunft. Das ist sehr wichtig für ihn. Bei Luhmann könnte man jetzt annehmen, dass er in dieser Zeit des Neoliberalismus mit seiner Eigenart gewonnen hat, Systeme zu beschreiben und überall zu erkennen. Ist nicht die Habermassche Position dann nicht auch die, die heute viel angemessener wäre, die uns bei der Krise ein besseres Instrumentarium liefert, um damit umzugehen? Welches sind da die Eigenschaften von Niklas Luhmann gegenüber Habermas?

Sibylle Tönnies: Niklas Luhmann war tatsächlich der Theoretiker des Ultraliberalismus, indem er begründet hat: Es gibt keine Werte. Es gibt keine Ziele. Es gibt keine Zwecksetzung. Es gibt auch keinen Staat, der der Wirtschaft oder der Gesellschaft übergeordnet wäre und bestimmte Ziele - zum Beispiel Gerechtigkeit - anpeilen könnte, sondern alles ist Selbstreferent und alles muss sich selber organisieren - im Grunde die alte liberale Theorie in einem neuen sprachlichen Gewand. Diese Theorie ist jetzt zurzeit an die Wand gefahren. Da haben Sie vollkommen recht. Insofern kann man sagen: Habermas geht als Sieger daraus hervor.
Aber, wie ich schon sagte, die Moral, die Gerechtigkeit steht bei ihm auf ganz tönernen Füßen.

Deutschlandradio Kultur: Im besten Habermasschen Sinne haben wir miteinander kommuniziert und auch gestritten. Mit Sibylle Tönnies sprach ich über Jürgen Habermas und seine Verdienste.


Jürgen Habermas: Philosophische Texte - Studienausgabe in fünf Bänden
Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 2009
2170 Seiten, 78 Euro