Wahnsinn und Normalität

12.04.2007
Der zweite Roman des Engländers Mark Haddon ist geprägt von liebenswerten Gegensätzen wie sie größer kaum sein könnten. Eine Familie - total exzentrisch und doch wieder im heutigen Mainstream. Es geht um die Auflösung von Beziehungen und um ihre Haltbarkeit. Die Geschichte ist zum Weinen und zum Lachen. Sie handelt vom Wahnsinn und der Normalität. Eine Familiengeschichte voller Widersprüche.
Die Halls leben in einer typischen englischen Vorstadt. George ist Rentner und baut sich ein Atelier, um zu malen, seine Frau Jean arbeitet in der Bücherei und hat ein Verhältnis mit Georges ehemaligem Kollegen. Die Tochter Kathi hat einen Sohn und will zum zweiten Mal heiraten, der Sohn Jeamie ist schwul, arbeitet als Immobilienmakler und weiß nicht, ob er sich an seinen Freund Tony dauerhaft binden soll. Der Plot könnte schnell zur Schnulze entgleisen, nicht aber wenn Mark Haddon erzählt.

Der Startschuss fällt für George in einer Umkleidekabine, als er einen Anzug für die Beerdigung eines Freundes anprobiert. Er entdeckt einen seltsamen Fleck an seiner Hüfte und weiß plötzlich - das ist Krebs. Diese Gewissheit schnürt ihm die Luft ab, er hat ein Blackout, ist völlig verstört und überlegt, wie er sich am besten umbringen kann. Trotz immer wiederkehrender Anfälle versucht Georg diese Angst vor seiner Frau geheim zu halten. Langsam klinken sich die anderen Figuren ein. Kathi, deren neuer Bräutigam nur auf wenig Gegenliebe in der Familie stößt, Jeamie der seinen Freund nicht mit auf die Hochzeit seiner Schwester nehmen will und damit seine homosexuelle Beziehung aufs Spiel setzt und Jean, die von ihrem Geliebte gebeten wird, ihren Ehemann zu verlassen.

Mark Haddon erzählt die Geschichte hintereinander und trotzdem gleichzeitig, aus der Perspektive dieser vier Personen und es ist erstaunlich, dass er sich in die Befindlichkeiten des schwulen Jeamies genauso gut einfühlen kann wie in die Bedürfnisse der alternden Jean. Exzellent beobachtend und einfühlsam, mit Humor und Tempo treibt der Autor das Geschehen voran wie in einem Krimi. Die vielen kleinen Missgeschicke der Familie sind entlarvend komisch und im nächsten Moment treiben sie einem die Tränen in die Augen. Es ist die kleine, feine Beobachtungsgabe des Autors, die den Wert des Romans ausmacht und das gleichzeitige Tempo, so dass man immer weiter wissen will, wie es den Protagonisten ergeht. Mark Haddon scheint jede seiner Figuren zu lieben, auch wenn er bei jedem den Finger auf den wunden Punkt legt. Und so macht er es dem Leser einfach, dies auch zu tun - ohne jeden Widerspruch.

Mike Haddon, 1962 geboren, lebt in Oxford und verfasste bisher Kinderbücher und Lyrik. Vor drei Jahren schrieb er seinen ersten Roman "Supergute Tage oder die sonderbare Welt des Christopher Boone" über einen autistischen Jungen, der sich langsam die Welt erobert. Auch hier war feinste Beobachtungsgabe gepaart mit britischem Humor das Erfolgsrezept. Der Roman wurde mehrfach ausgezeichnet. "Der wunde Punkt" erscheint in 23 Ländern.

Rezensiert von Birgit Koß

Mark Haddon:
Der wunde Punkt

Roman, Blessing Verlag 2007,
aus dem Englischen von Anke Carolin Burger,
447 Seiten, 19,95 Euro.