Wahlverwandtschaft

19.11.2008
Wenn Goethe einst ein Fan eines Politikers gewesen ist, dann war er es ausgerechnet von Napoleon, der 1806 in Weimar einmarschierte. Einmal wurde er sogar vom Imperator empfangen. Das Gespräch soll sich um Goethes Bestseller "Werther" gedreht haben, den Napoleon sieben Mal gelesen haben wollte, weiß Gustav Seibt in seiner historischen Erzählung zu berichten.
Goethes Abscheu vor revolutionären Umbrüchen und "Parteienstreit" ist bekannt. Gerade deshalb wird oft unterschätzt, wie sehr er in politische Ereignisse involviert war. Er wirkte diskret im engsten Führungszirkel eines kleinen Staatsgebildes, sein Einfluss bei der politischen Entschlussfindung in Weimar war groß.

"Goethe saß vor der Schlacht von Jena beim preußischen Generalstab zu Tisch, und nach der Schlacht beherbergte er einige der berühmtesten französischen Marschälle in seinem Haus."

So liest man es nun bei Gustav Seibt. Sein Buch "Goethe und Napoleon" zeigt keinen Zeit enthobenen Olympier, sondern einen Menschen, der nicht nur aufmerksamer Zeuge weltgeschichtlicher Umwälzungen, sondern zuinnerst verwickelt in die politische Dramatik der Stunde war.

"Abends um fünf Uhr flogen die Canonenkugeln durch die Dächer", "

notierte Goethe im Oktober 1806, als die Franzosen kamen. Da galt es, Betten für 40 Soldaten bereitzustellen und die Gewaltlust betrunkener Soldaten abzuwehren. Weimar musste für Napoleon in den folgenden Jahren drückende Steuern und Kriegskontributionen leisten. Das alles war aber kein Hindernis für Goethes Napoleon-Verehrung. Der Imperator wurde ihm zur absoluten Größe:

" "Außerordentliche Menschen, wie Napoleon, treten aus der Moralität heraus. Sie wirken zuletzt wie Feuer und Wasser, wie physische Ursachen."

Goethe mokierte sich über die politische "Hypochondrie" vieler Landsleute und bemühte sich seinerseits um ein produktives Verhältnis zur Besatzungsmacht: Mitarbeit ist klüger als Widerstand. Man könnte es Appeasement nennen.

Die legendäre Begegnung mit Napoleon ereignete sich dann beim Erfurter Fürstenkongress. Während der zweieinhalb Wochen im Herbst 2008 wurde das 16.000-Seelen-Städtchen zur weltpolitischen Bühne für zahlreiche Kaiser, Könige und Fürsten. Allabendlich erstrahlten die drei Hauptstraßen Erfurts in der importierten Pracht von Paris. Napoleon suchte das Einverständnis mit dem russischen Zaren, um Österreich in die Schranken zu weisen.

Mit den berühmten Schmeichel-Worten "Vous êtes un homme" empfing der frühstückende Kaiser den Schriftsteller. Das Gespräch widmete sich dann unter anderem erzähltechnischen Details des "Werther"-Romans. Talleyrand schrieb später, Napoleon habe sich gezielt auf die Gespräche mit den Intellektuellen Deutschlands vorbereitet, um ihnen zu imponieren und sie als Meinungsführer für seine Sache zu gewinnen. Seine angeblich siebenfache "Werther"-Lektüre wäre demnach gut investierte Lesezeit gewesen, angesichts der Lobby-Arbeit, die Goethe fortan für ihn leistete. Eine solche leicht hämische Perspektive ist Seibts Sache jedoch nicht. Zu sehr macht es ihm Spaß, sich in die "geheimnisvolle Intimität unter Großen" zu mischen.

Wie ein historischer Gesellschaftsreporter vermittelt er Glanz und Glorie des Erfurter Ausnahmezustands, mit dem Napoleon die Gegenseite beeindrucken wollte: die Theaterabende, Audienzen, Zeremonien, Hofbälle, Schlacht¬feldbesuche, Hirsch- und Hasenjagden. Im Verhältnis der beiden Genies entdeckt Seibt die Wahlverwandtschaft zweier Leistungsethiker: ein bürgerlicher Schriftsteller, der geadelt und in den Ministerstand erhoben, und ein Leutnant, der zum Caesar aufgestiegen war.

Im napoleonischen Europa sah Goethe die Chance für eine neue "augusteische" Friedensordnung, in der auch die deutsche Kultur den gebührenden Rahmen bekäme. Jedenfalls bemüht sich Seibt, aus manchen Gedichten, die von den Romantikern als Gefälligkeitspoesie geschmäht wurden, Züge einer politischen Vision herauszulesen. Bis zum Ende glaubte Goethe nicht an Napoleons Besiegbarkeit. Auch nach der Leipziger Völkerschlacht, die noch einmal ungeheure Leiden und Lasten für die Region brachte, schmückte er seine Brust gern mit dem von Napoleon verliehenen Kreuz der Ehrenlegion, was bei einem österreichischen Offizier kriegerischen Abscheu erregte:

"Pfui Teufel, wie kann man so etwas tragen!"

Etwas bedauerlich, dass Seibt die literarischen Spuren von Goethes Napoleon-Erlebnis nicht ausführlicher behandelt – seine bestechende Interpretation von "Dichtung und Wahrheit" als zeitgeschichtlicher Epochen-Spiegelung macht Neugier auf mehr. Vom Verlag wird das Buch als "kulturhistorisches Kabinettstück im Geist von Erzählern wie Joachim Fest und Sebastian Haffner" angepriesen. Das weckt falsche Leseerwartungen, denn Haffners entschiedene Lust an zugespitzten Thesen und weltgeschichtlichen Gedankenspielereien liegt Seibt ebenso fern wie die analytische Brillanz, mit der Fest von hoher Warte die Erscheinungswelt mustert. Nicht erklären, sondern beschreiben und erzählen – das ist vielmehr die Devise dieses Buches. Nie wurde das Gipfeltreffen der Genies so im Detail, mit einem solchen Aufwand an Vergegenwärtigungstreue vor Augen geführt.

Auch stilistisch betreibt Seibt Mimesis – mit einem klassizistisch polierten Duktus. Weil die napoleonischen Jahre hierzulande mit dem patriotischen Gedenken an die "Freiheitskriege" längst aus dem breiten historischen Bewusstsein geschwunden sind, leistet dieses Panorama verdienstvolle Erinnerungsarbeit.

Rezensiert von Wolfgang Schneider

Gustav Seibt: Goethe und Napoleon. Eine historische Begegnung.
C.H. Beck Verlag, München 2008, 288. S. 19,90 Euro