Wählerstudie

Nur die Ruhe vor dem Sturm?

Martin Schulz Wahlplakat der SPD, Christian Lindner Wahlplakat der FDP und Angela Merkel Wahlplakat der CDU zur Bundestagswahl 2017 in Krefeld
Wahlplakate zur Bundestagswahl 2017 © imago/Future Image/Christoph Hardt
Stephan Grünewald im Gespräch mit Ute Welty · 16.09.2017
"Breiig und schöngefärbt": Für viele Bürger habe der Wahlkampf nichts mit ihrer Lebenswirklichkeit zu tun, sagt der Psychologe Stephan Grünewald. Die Menschen hätten eine "gebremste Wut". Vor allem, weil sie ein bestimmtes Thema im Wahlkampf vermissen.
Kaum jemand zweifelt eine Woche vor der Wahl an einem deutlichen Sieg der Union: Die Mehrheit der Wähler sagt ganz offensichtlich "Weiter so". Doch die Ruhe täuscht, warnt der Psychologe Stephan Grünewald vom Marktforschungsinstitut Rheingold. Für eine qualitative Studie hat er 50 Menschen intensiv befragt - und dabei als vorherrschendes Gefühl Wut und Enttäuschung festgestellt:
Sehr enttäuscht seien die Wähler vom Wahlkampf, sagte Grünewald im Deutschlandfunk Kultur. Dort sähen sie viel Breiiges und Schöngefärbtes, das sich überhaupt nicht mit ihrer Lebenswirklichkeit decke.
Offenbar vor allem im Hinblick auf ein Thema: Denn während die Flüchtlingskrise im Wahlkampf lange Zeit überhaupt keine Rolle gespielt habe, sei in den Interviews mit den Studienteilnehmern das "Flüchtlingsthema" spätestens nach fünf, sechs Minuten auf dem Tisch gewesen. "Wir haben festgestellt, dieses Thema ist für viele Menschen immer noch eine offene Wunde", betont der Psychologe.
Zerrissen zwischen dem Wunsch, hilfsbereit zu sein, und einer "heillosen Angst vor Überfremdung" suche man jetzt nach einem Masterplan. Dieses "Wir schaffen das" ist viel zu diffus. Die Menschen wollen wissen, was bedeutet das langfristig, welche Opfer kommen auf mich zu, welche Spielregeln gelten, wie wird das finanziert, muss ich Verzicht leisten oder nicht."

"Kippliche" Stimmung im Land

Insgesamt beschreibt Grünewald die Stimmung als "kipplich". Einerseits nähmen die Menschen Deutschland als "verwahrlostes Land mit No-Go-Areas, mit maroden Schulen, kaputten Autobahnen, mit einer klaffenden sozialen Ungerechtigkeit" wahr. Auf der anderen Seite erscheine ihnen Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern noch als sichere Insel des Wohlstands.
Diese "Kipplichkeit" spiegele sich auch im Verhältnis der Menschen zu Angela Merkel wider: "Mal ist sie die Mutter, die die Flüchtlinge reinlässt, die die eigenen Kinder nicht so sehr liebt wie die Fremden", so Grünewald. "Im nächsten Moment, wenn man den Blick nach außen wendet, ist sie die Schutzheilige des Landes, sie ist eine Art Raubtierdompteuse, sie kann diese bösen Despoten wie Trump, Erdogan oder Putin in die Schranken verweisen, und dann ist man wieder im Grunde genommen ganz nah bei Mutter Merkel und denkt, wir dürfen sie jetzt nicht vom Hof jagen."

Halbherziges Treuebekenntnis zu Merkel

Insgesamt herrsche bei den Menschen "gebremste Wut" vor. "Es rumort, sie wüten und toben, aber viele Wähler kommen in diesem Wüten und Toben an einen Punkt, dass sie sagen: Wenn wir jetzt so weiterwüten, dann fliegt uns hier der ganze deutsche Laden um die Ohren, also nehmen wir uns lieber zurück", sagt der Psychologe. "Und diese Selbstbremsung führt wieder dazu, dass man letztendlich sagt, wir wollen das Bewährte, weiter auf Bewährung setzen, wir wählen diesmal zähneknirschend wieder Frau Merkel. Das sind aber in der Regel sehr halbherzige Treuebekenntnisse."
Statistisch repräsentativ seien die Ergebnisse seiner qualitativen Studie natürlich nicht, räumt Grünewald ein. Aber man habe Wähler aller Parteien befragt und grundsätzlich Strömungen und Befindlichkeiten repräsentiert. "Wir machen das jetzt zum fünften Mal, dass wir zur Bundestagswahl 50 Wähler auf die Couch legen, und wir lagen manches Mal näher am Endergebnis als die Demoskopen, weil wir die Trendwende verstanden haben."
(uko)

Das Interview im Wortlaut:
Ute Welty: Deutschland ist wütend – das ist der Ergebnis einer Studie, die man beim Marktforschungsinstitut rheingold durchgeführt hat. 50 Menschen haben daran teilgenommen, teils in langen tiefenpsychologischen Interviews, teils in Gruppendiskussionen. Koordiniert und ausgewertet hat das Ganze Stephan Grünewald, Diplom-Psychologe, Bestsellerautor und Mitbegründer von rheingold. Guten Morgen!
Stephan Grünewald: Guten Morgen, Frau Welty!
Welty: Wenn man sich anschaut, wie die Kanzlerin auf Marktplätzen beschimpft wird, wie Wahlplakate verunstaltet werden und auf welchem niedrigen Niveau sich die politische Diskussion im Fernsehen abspielt mit Rausrennen aus der Sendung und sich gegenseitig anschreien – waren Sie tatsächlich überrascht, dass offenbar ordentlich Druck ist im Kessel?
Grünewald: Was uns erstaunt hat, wie enttäuscht die Wähler eigentlich vom Wahlkampf sind. Ich glaube, die Menschen merken, sie gucken das Kanzlerduell, sie gucken die Sendungen, aber sie erleben, das ist alles breiig, da wird viel schöngefärbt, das sind wunderschöne Plakate, und das deckt sich überhaupt nicht mit unserer Lebenswirklichkeit. Von daher ist das Gefühl: die Politiker, die verstehen uns nicht, wir fühlen uns eklatant im Stich gelassen.

"Spätestens nach fünf, sechs Minuten war das Flüchtlingsthema auf dem Tisch"

Welty: Und das ist dann diese Enttäuschung, die zu diesem bisher unbekannten Ausmaß von Wut führt?
Grünewald: Die Enttäuschung machte sich vor allen Dingen an diesem Thema Flüchtlingskrise fest. Das war ja lange Zeit im Wahlkampf vor allen Dingen bei den Plakaten komplett ausgespart. Wenn wir mit den Menschen im Interview zwei Stunden gesprochen haben, spätestens nach fünf, sechs Minuten war das Flüchtlingsthema auf dem Tisch, und wir haben festgestellt, dieses Thema ist für viele Menschen immer noch eine offene Wunde. Sie sind in der Flüchtlingsfrage in ein ganz grundsätzliches Dilemma geraten, in eine innere Zerrissenheit, die sie bis heute nicht befrieden konnten.
Auf der einen Seite wollen sie hilfsbereit sein, und sie finden es schlimm, wenn man sterbende Menschen im Mittelmeer sieht. Auf der anderen Seite haben sie eine heillose Angst vor Überfremdung. Die Menschen merken, wenn ich das Thema im Freundeskreis anspreche, lande ich sehr schnell in einer extremen Ecke, wo ich mich nicht zugehörig fühle – entweder in einer Gutmenschecke oder in der Naziecke. Das heißt, man sucht jetzt händeringend nach einem Masterplan. Dieses "Wir schaffen das" ist viel zu diffus. Die Menschen wollen wissen, was bedeutet das langfristig, welche Opfer kommen auf mich zu, welche Spielregeln gelten, wie wird das finanziert, muss ich Verzicht leisten oder nicht.

"Wir repräsentieren grundsätzliche Strömungen und Motivationen"

Welty: Wer hat sich überhaupt von Ihnen befragen lassen, wer war auch dazu bereit, hier ein Stück weit die Hosen runterzulassen?
Grünewald: Wir haben uns da ein bisschen am Parteienproporz orientiert: Wähler aller Parteien, Männer und Frauen getrennt. Interessant ist, wenn wir zwei Stunden mit den Menschen sprechen, haben Sie ja eine Atmosphäre, einen vorurteilsfreien Raum, wo die Wähler alles zur Sprache bringen können, was ihnen auf dem Herzen liegt, und am Ende der zwei Stunden versteht man sich selbst in seiner Animosität, in seiner Sehnsucht auch besser.
Welty: Wie repräsentativ sind Ihre Ergebnisse?
Grünewald: Wir sind im statistischen Sinne nicht repräsentativ, aber wir repräsentieren grundsätzliche Strömungen und grundsätzliche Motivationen, grundsätzliche Befindlichkeiten. Wir machen das jetzt zum fünften Mal, dass wir zur Bundestagswahl 50 Wähler auf die Couch legen, und wir lagen manches Mal näher am Endergebnis als die Demoskopen, weil wir die Trennwände verstanden haben.

Schutzheilige und Raubtierdompteuse zugleich

Welty: Wenn wir das Ganze jetzt zurückspiegeln auf die politische Ebene: Wer profitiert von dieser Entwicklung und wer verliert?
Grünewald: Diese Entwicklung ist sehr kipplich. In dieser Enttäuschung fokussieren viele Wähler auf das Land im Inneren, und sie haben dann das Gefühl, Deutschland ist ein verwahrlostes Land mit No-Go-Areas, mit maroden Schulen, kaputten Autobahnen, mit einer klaffenden sozialen Ungerechtigkeit. Im nächsten Moment haben sie das Gefühl, wenn sie den Blick nach außen richten, eigentlich sind wir noch eine sichere Insel des Wohlstandes. Das heißt, diese Kipplichkeit macht sich sehr stark auch an Angela Merkel fest. Mal ist sie die Mutter, die die Flüchtlinge reinlässt, die die eigenen Kinder nicht so sehr liebt wie die Fremden.
Im nächsten Moment, wenn man den Blick nach außen wendet, ist sie die Schutzheilige des Landes, sie ist eine Art Raubtierdompteuse, sie kann diese bösen Despoten wie Trump, Erdogan oder Putin in die Schranken verweisen, und dann ist man wieder im Grunde genommen ganz nah bei Mutter Merkel und denkt, wir dürfen sie jetzt nicht vom Hof jagen. Insgesamt haben wir festgestellt, die Wähler kommen in eine Bewegung rein, dass sie ab und zu wirklich ihr Unbehagen artikulieren: es rumort, sie wüten und toben, aber viele Wähler kommen in diesem Wüten und Toben an einen Punkt, dass sie sagen: Wenn wir jetzt so weiterwüten, dann fliegt uns hier der ganze deutsche Laden um die Ohren, also nehmen wir uns lieber zurück. Also wir beobachten eine gebremste Wut, einen Akt der Selbstbremsung, und diese Selbstbremsung führt wieder dazu, dass man letztendlich sagt, wir wollen das Bewährte, weiter auf Bewährung setzen, wir wählen diesmal zähneknirschend wieder Frau Merkel. Das sind aber in der Regel sehr halbherzige Treuebekenntnisse.

"Merkel muss aus ihrer Überparteilichkeit raus"

Welty: Aber wenn jetzt die Kanzlerin oder SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz auf Sie zukommt und sagt, Herr Grünewald, haben Sie denn nicht einen Tipp für mich, eine Strategie, wie ich mit dieser Ambivalenz, mit dieser Polarisierung in der Gesellschaft auch umgehen kann – was raten Sie?
Grünewald: Herrn Schulz würde ich raten, er hätte seine ursprüngliche Haltung konsequent durchführen sollen. Er ist ja gestartet als messianische Gestalt. Man hatte das Gefühl, jetzt kommt ein durchsetzungsstarker Vater, der dieses diffuse "Wir schaffen das" mit Inhalt füllt, der genau sagt, wie können wir das bewerkstelligen, was ist genau zu tun. Dann erlebte man im Wahlkampf aber jemanden, der quasi leierkastenmäßig die Gerechtigkeitstirade wiederholte, und heute wird er als Gestalt wahrgenommen, die zwar sympathisch ist – er ist der gute, verständnisvolle Onkel –, aber er ist nicht der durchsetzungsstarke Vater, der Frau Merkel Paroli bieten kann.
Welty: Und was raten Sie der Kanzlerin?
Grünewald: Ich glaube, die Demokratie im jetzigen Zustand ist einem Erosionsprozess. Es ist ganz wichtig, dass wir keine große Koalition haben und dass die Kanzlerin wieder klare, angreifbare Positionen markiert. Also bisher hat sie ja immer so als Vermittlungsengel fungiert. Sie hat die Wähler in Sicherheit gewogen. Sie hat gesagt: Ihr braucht euch nicht zu kümmern, ich kümmere mich, und all das, was ich mache, ist alternativlos. Das hat aber dazu geführt, dass sich viele Wähler entmündigt fühlen. Die letzten vier Jahre sind eine Chance, Demokratie wieder zu leben. Das bedeutet aber, dass auch Frau Merkel streitbar werden muss. Sie muss aus ihrer Überparteilichkeit raus, sie muss eine klare Position beziehen. Dadurch wird sie angreifbar, dadurch haben wir aber wieder die Kontroverse, die der politischen Kultur seit Langem fehlt.
Welty: Der Diplom-Psychologe und Autor Stephan Grünewald hat 50 Deutsche quasi auf die Couch gelegt, und die Ergebnisse sind alles andere als beruhigend. Ich danke trotzdem für Einschätzung wie auch für Gespräch, Herr Grünewald!
Grünewald: Danke Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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