Wachsmoulagen in der Medizin

Wenigstens spritzt kein Blut!

Navena Widulin, medizinische Präparatorin an der Berliner Charité, bemalt die Wachsmoulage einer Hand.
Navena Widulin, medizinische Präparatorin an der Berliner Charité, bemalt die Wachsmoulage einer Hand © Deutschlandradio / Thomas Gith
Von Thomas Gith  · 14.01.2016
Ist es ein Schnitt oder ein Stich? Die medizinische Präparatorin Navena Widulin bildet schwerste Verletzungen am Wachsmodell nach – und unterstützt damit die Arbeit der Rechtsmediziner. Ihre Expertise ist neuerdings auch wieder in der Ärzteausbildung gefragt.
Auf dem weißen Tisch liegt eine ausgestreckte, männliche Hand. Der Daumen ist abgerissen, der Zeigefinger nur noch als Stumpf vorhanden. Unter dem geschwollenen Handballen ist die Haut an mehreren Stellen aufgeschnitten und blutig.

"Das ist ein Mann gewesen, der sich selbst getötet hat. Und der hat, also als ersten Versuch, wollte er einen Pulsaderschnitt setzen. Und man sieht eben kleine, parallel geführte Schnitte, was auch häufig ein Zeichen ist für einen Suizid."

Die medizinische Präparatorin Navena Widulin zeigt auf die Verletzungen. Die sehen täuschend echt aus. Dabei sind Hand und Unterarm aus Wachs nachgebildet. Um das Modell anzufertigen, ist die Präparatorin direkt an eine Leiche gegangen und hat einen Abdruck der betroffenen Körperteile erstellt.

"Ich arbeite mit einem Silikon, was in zwei Schichten aufgetragen wird. Das ist also ein Zweikomponentenhärter, den man zusetzt, und mit einer dünnen Schicht zuerst auf die Haut direkt aufträgt. Dann wartet man kurz, zehn Minuten, bis das ausgehärtet ist und trägt die zweite Schicht auf. Und man macht die Schicht, also das Silikon, damit einfach stabiler."

Das Silikon dringt in jede Pore und lässt sich anschließend vollständig von der Haut abziehen. Die Silikonform von Hand und Unterarm wird dann noch mit hautfarben Wachs ausgegossen. Fertig ist die Moulage. Um Juristen, Polizisten und Rechtsmediziner auszubilden, sind solche Wachsmoulagen sehr nützlich, sagt Dr. Sven Hartwig von der Berliner Charité. Anders als Fotos vermitteln sie einen sehr realistischen Eindruck von den Verletzungen.

"Also insbesondere bei der Beurteilung von Schnittverletzungen ist die Dimension der Tiefe entscheidend um zu differenzieren, ob es sich um einen Schnitt oder einen Stich handelt. Und das ist am Bild nicht zu leisten. Dafür braucht es dieses Modell mit der Tiefendimension, was hier sehr, sehr gut gelungen ist, weil man ja tatsächlich bis in das Unterhautfettgewebe blicken kann."
Die Verletzung an der Wachsmoulage studieren
Angehende Rechtsmediziner können an dieser Wachsmoulage ihre Beobachtungsgabe schulen und lernen, die Verletzungen genau zu beschreiben. Deutlich wird das auch bei dem Modell eines männlichen Oberkörpers. Die Haut ist blass, die Brustwarzen bräunlich, im Brustkorb selbst klaffen mehrere blutige Wunden. Für Laien sieht es nach einem Verbrechen aus.

"In der Mitte der Moulage spannen sich die Rippenbögen auf. Und man sieht mittig, etwa auf Höhe des Brustbeinendes in dem Präparat einen Messerrücken. Scheinbar befindet sich die Klinge im Brustkorb. Und es gibt begleitend eine Vielzahl braun-rötlich eingetrockneter, oberflächlicher Läsionen, die ich für Stiche halte."

Doch wie auch die Pulsaderschnitte sind diese Stichverletzungen bei einem Suizidversuch entstanden – und nicht bei einem Verbrechen. Dass es mehrere Wunden gibt, ist dabei nicht unüblich.

"Also es ist durchaus möglich, dass man sich selbst in den Brustkorb sticht, auch mehrfach, bis man entscheidende Strukturen trifft, in diesem Fall sicherlich das Herz und es dann irgendwann über den Blutverlust in die Brusthöhle zur Handlungsunfähigkeit kommt. Also es ist selbst jemandem noch benommen, der sich suizidal in den Brustkorb sticht, dieses mehrfach zu tun."
Moulagen können die Leichenschau ersetzen
Moulagen, die solche Verletzungen abbilden, lassen Rückschlüsse auf die Todesursache zu. In der Ausbildung von Rechtmedizinern, Polizisten und Juristen können sie die Leichenschau ersetzen, die emotional aufwühlend ist.

"Eine vollständige Leiche hat auch ein Gesicht und derjenige, der sich dieser Leiche nähert, wird auch immer den Blickkontakt im weitesten Sinne zum Gesicht suchen. Und für viele, die nicht gewohnt sind, täglich mit Verstorbenen umzugehen, ist das emotional belastend. Weil man sich mit dem Verstorbenen zum Teil auch identifiziert oder eine Identifikation aus der Verwandtschaft hat. Das ist mit einer Wachsmoulage nicht geben, weil sie hier eine völlige Abstraktion haben."

Moulagen wurden bereits in der Vergangenheit genutzt. Die ersten Wachsmodelle entstanden um 1800. Damals allerdings nicht für die Rechtsmedizin – sondern aus einem neuen medizinischen Bedürfnis heraus, erzählt der Direktor des Medizinhistorischen Museums in Berlin Professor Thomas Schnalke.

"Man hat sich plötzlich viel stärker für Krankheiten interessiert. Nicht mehr so stark für Anatomie, also Körper aufschneiden und mal nachgucken, woraus der Körper besteht. Sondern das Interesse ging eindeutig über auf eine genauere Beschreibung von Krankheiten. Und zwar auf der Haut, das haben dann vor allen Dingen die Hautärzte geordert. Und die hatten damals bestimmte Medien zur Verfügung: Man konnte zeichnen natürlich und dann hat man eben auch die Möglichkeit gesehen, in Wachs Dinge nachzuformen."
Ab 1950 lösten Fotografien die Moulagen ab

Doch spätestens ab 1950 verloren die Moulagen an Bedeutung. Fotografien von Krankheiten waren jetzt das Maß der Dinge. Erst seit Neustem erleben Moulagen eine Renaissance. Mit gutem Grund, erzählt Navena Widulin von der Berliner Charité.

"Die Lehrveranstaltungen sind voll von Fotos und Powerpoint-Präsentationen. Deswegen sind wir halt bemüht, auch wieder zurück ans Objekt zu gehen. Und das ist tatsächlich so, dass man sich auch bei größeren Objekten wie hier, ja richtig um die Moulage herumbewegen kann. Und das man sozusagen tatsächlich lernen kann zu beobachten, wie sich die Haut verhält, wenn man irgendwie auf sie einwirkt."

Vor allem der distanzierte und doch realistische Eindruck macht die Moulagen heute wieder so attraktiv.
Eine Syphilis im Anfangsstadium - historische Moulage um 1900
Eine Syphilis im Anfangsstadium - historische Moulage um 1900© Deutschlandradio / Thomas Gith