Vorweggeträumte Verbrechen

Albrecht Koschorke im Gespräch mit Frank Meyer · 14.08.2012
Hitler schrieb "Mein Kampf", Stalin und Radovan Karadzic verfassten Gedichte. Ob es einen Zusammenhang zwischen despotischer Dichtung und politischer Praxis gibt, hat der Literaturwissenschaftler Albrecht Koschorke untersucht.
Frank Meyer: Der syrische Despot Baschar al-Assad hat in diesem Jahr den Preis "Imperiale Kultur" erhalten. Der Preis wird unter anderem vom russischen Schriftstellerverband vergeben. Um die Verbindung von Literatur und Despotie geht es in dem Buch "Despoten dichten", und das stellt die These auf: Gewaltherrschaft und eine poetische, literarische Begründung dafür, die gehören im 20. Jahrhundert ganz eng zusammen. Der Literaturwissenschaftler Albrecht Koschorke, Professor an der Universität Konstanz, hat dieses Buch mit herausgegeben. Seien Sie Willkommen, Herr Koschorke!

Albrecht Koschorke: Guten Tag!

Meyer: Sie sagen schon in der Einleitung zu Ihrem Buch, dass die Tyrannen des 20. Jahrhunderts auch eine Art von Dichtern, von Künstlern gewesen seien. Wie meinen Sie das?

Koschorke: Ja, erst mal ist es ein statistischer Befund. Von den Tyrannen, die wir kennen, sind eine ganze Reihe literarisch tätig gewesen und haben Werke verschiedener Art verfasst, teilweise vor ihrer politischen Laufbahn, teilweise aber noch im Amt oder dann auch … noch im Amt, ja. Das ist erst mal der Befund. Dann kann man sich fragen: Ist das jetzt anekdotisch, ist das Zufall? Es gibt natürlich auch andere, ästhetische Ambitionen. Wir wissen, dass Hitler sich ja als Kunstmaler verstanden hat und später dann als Staatsbaumeister, der Architektur zugewandt, aber auch Hitler zählt eigentlich in diese Reihe, denn letztlich ist sein Hauptwerk, "Mein Kampf", ein Werk gewesen, das in irgendeiner Weise Politik und Fiktion ja doch miteinander verquickt. Und das ist dann der nächste Schritt, zu fragen, ob es nicht einen engeren Zusammenhang zwischen dieser Art von Poesie und dieser Art von Gewaltherrschaft gibt.

Meyer: Um beim Beispiel Hitler zu bleiben – "Mein Kampf" jetzt gesehen als eine Fiktion eines künftigen Staates, einer künftigen Herrschaft, die dann vom Künstler, wenn man das jetzt mal so sagen will, vom Künstler Hitler mit Gewalt in die Wirklichkeit überführt wird?

Koschorke: Ja, Hitler war ein Autodidakt, er war ein Wiener Stadtstreicher, er hat alles Mögliche sich zusammengelesen. Er kommt aus dem, man könnte sagen, intellektuellen und sozialen Prekariat einer Krisenzeit, und wie viele andere hat er sich in Größenphantasien ergangen, sich aus allen möglichen Materialien dann eine Weltanschauung zusammengeschustert und hat die in diesem Buch niedergelegt. Und dieses Buch hat ja Karriere gemacht, nicht nur als ein Grundbuch des Nationalsozialismus, sondern auch als Vorbild für viele andere Bücher dann von Diktaturen des 20. Jahrhunderts, also von dem… ganz unterschiedlicher weltanschaulicher Ausrichtungen. Also von dem "Roten Buch" Maos bis zu dem "Grünen Buch" des libyschen Diktators Gaddafi gibt es eine ganze Reihe. Das letzte dieser Werke, das ist bei uns weniger bekannt, das ist die sogenannte "Ruhmana" des Turkmenbashi, des vormaligen Herrschers von Turkmenistan, das sich in einer ähnlichen Art sozusagen in einer Nationalfiktion ergeht.

Meyer: Wir wollen uns einige Beispiele anschauen mit Ihnen. Fangen wir an mit Stalin, dem sowjetischen Diktator. Wir haben uns mal ein Beispiel herausgesucht aus seinem Werk, aus seinem lyrischen Frühwerk, auch wenig bekannt, dass er als Dichter mal angefangen hat, auch angefangen hat. Hier ist eine Strophe aus seinem Gedicht "Der Morgen":

Sprecher:

Morgen

Eine Rosenknospe war erblüht
Und reckte sich, das Veilchen zu berühren.
Die Lilie erwachte
Und neigte den Kopf in der Brise.
Hoch in den Wolken die Lerche sang
Ein zwitschernd Loblied,
Während die frohe Nachtigall
Mit sanfter Stimme sagte:
Sei voll von Blüten, o liebliches Land.
Frohlocke, Staat der Iberier,
Und du, o Georgier, durchs Lernen
Mach deiner Heimat Freude.

Meyer: Eine Strophe aus einem frühen Gedicht von Stalin. Das ist ja ein ziemlich schlichtes Gedicht, Herr Koschorke. Kann man da irgendetwas herauslesen vom späteren Diktator Stalin?

Koschorke: Na ja, Stalin war in seiner Jugend vielerlei, er war unter anderem ein Vertreter, ein erfolgreicher Vertreter, erfolgreich publizierender Vertreter der georgischen Spätromantik, er war aber auch Bandit und Bankräuber. Und in diesem Gedicht zeigt sich seine Abhängigkeit von romantischen Vorlagen, es zeigt sich, dass er da eigentlich gar nicht originell ist, also er orientiert sich sicher am Vorbild Puschkin, aber ihm fehlt irgendwie die Finesse und auch die Ironie, also Selbstironie ist eine… oder überhaupt Ironie ist eine Eigenschaft, die Diktatoren nicht gegeben ist. Aber das ist insofern interessant, dieses Gedicht, als es zeigt die auch durchaus konservative Ästhetik dieses Mannes, und die wird dann bedeutungsvoll, weil er ja einerseits dann einem Regime vorsteht, das sich avantgardistischen Impulsen verdankt – die Sowjetunion war in ihren ersten Jahren ja eine avantgardistische Veranstaltung und hat auch sehr viele der Künstler an sich gebunden –, und andererseits war er dann derjenige, der diesen avantgardistischen Impuls in die Ästhetik des sogenannten sowjetischen Realismus umgewandelt hat, der sich sehr stark historischen Vorbildern verdankt. Man sieht hier, wie nah also ein so eigentlich revolutionäres Regime an abgedroschene Vorbilder der Romantik anschließt. Das ist natürlich eine Auskunft, es ist eine Auskunft darüber, dass wir es hier eigentlich mit einer spätromantischen Veranstaltung zu tun haben.

Meyer: Deutschlandradio Kultur, wir sind im Gespräch mit dem Literaturwissenschaftler Albrecht Koschorke über das Buch "Despoten dichten" über literarische Texte von Despoten des 20. Jahrhunderts, von Benito Mussolini bis Radovan Karadzic. Ein Fall taucht auf in Ihrem Buch, der bis in unsere Gegenwart reicht, Radovan Karadzic, angeklagt wegen Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor dem Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien, der Prozess läuft ja noch. Karadzic hat ja eine Schlüsselrolle gespielt bei der Belagerung von Sarajevo im Jugoslawienkrieg, dabei, bei dieser Belagerung sind über 11.000 Menschen ums Leben gekommen. Und hier ist ein Gedicht von Radovan Karadzic, das ist 20 Jahre vor dieser Belagerung entstanden, es heißt "Sarajevo", ein Gedicht aus dem Jahr 1971.

Sprecher:

Sarajevo

Ich höre, wie das Unglück schreitet
In der Gestalt eines Käfers.
Doch wenn die Stunde schlägt,
wird der Käfer zerquetscht,
so wie ein alter Sänger von der Stille zermürbt wird
und sich in Stimme verwandelt.
Die Stadt verbrennt wie ein Klumpen Weihrauch,
und in dem Rauch windet sich unser Bewusstsein.
Durch die Stadt gleiten leere Anzüge,
rot stirbt der Stein, eingemauert ins Haus.
Pest. Still.
Eine Kolonne gepanzerter Pappeln marschiert hinauf.
Aggressor.
Luft strömt durch unsere Seelen,
und mal bist du Mensch und mal Luftgeschöpf.
Ich weiß, all dies ist das Vorspiel von Wehklagen.
Welche Pläne schmiedet das schwarze Metall in der Garage?
Schau, wie sich die Angst in eine Spinne verwandelt,
im Computer nach der Antwort sucht.

Meyer: "Sarajevo", ein Gedicht von Radovan Karadzic aus dem Jahr 1971. Herr Koschorke, wenn man das heute hört, mit dem Wissen von heute, dann denkt man natürlich: Hat er da die Vernichtung von Sarajevo oder die teilweise Vernichtung – "die Stadt verbrennt", heißt es ja in dem Gedicht – vorweggenommen, vorweggeträumt, 20 Jahre davor, oder wäre das eine Überinterpretation dieses Gedichtes?

Koschorke: Es gibt einen Dokumentarfilm, "Serbian Epics", der im Auftrag des BBC von Pawel Pawlikowski gedreht worden ist. Da wird Karadzic begleitet, und er wird gezeigt in verschiedenen Stationen während der Belagerung von Sarajevo. Und es gibt eine sehr eindrückliche Szene, wo er dort den russischen Dichter Eduard Limonow empfängt. Die beiden unterhalten sich über Dichtung und über Politik, sie schießen auch ab und zu mal eine Gewehrsalve in Richtung auf Sarajevo, so wie nebenbei, fast wie so ein Sport, und da sagt Karadzic, er habe das ja in gewisser Weise vorausgeahnt oder vorweggeträumt. Und diese Aussage in Verbindung mit diesem Gedicht hat unter Juristen zu der Überlegung geführt, ob man nicht dieses Gedicht tatsächlich, auch den Dokumentarfilm als Beweismaterial in dem Verfahren, das gegen Karadzic in Den Haag anhänglich ist, verwenden könne. Das wäre der erste Fall, der mir bekannt ist, dass tatsächlich in diesem schwer … Also es geht um Völkermord, und Völkermord ist ein juristisch kompliziertes Unternehmen, denn um jemandem Völkermord nachzuweisen, muss man eine Absicht nachweisen. Und steckt jetzt in diesem Gedicht eine Absicht? Denn es kann ja nicht einfach nur … Wenn Karadzic sagt, er hat es vorhergesehen, dann heißt es ja so viel, dass er damals schon formuliert hat, was er später getan hat. Hier rückt also die Dichtung sehr nah an eine politische Praxis, und das ist im Fall von Ex-Jugoslawien ohnehin ein … sehr symptomatisch, denn …

Meyer: Darauf spielt Ihr Autor … Slavoj Zizek hat den Beitrag zu diesem Thema für Ihren Band geschrieben, und er schreibt ja da auch, die ethnischen Säuberungen in Ex-Jugoslawien seien durch die kühnsten Träume der Dichter vorbereitet worden. Das ist natürlich auch eine Formulierung, die aufs Paradox zielt, denn sonst denken wir an ganz Anderes, wovon Dichter träumen. Aber er sagt, die Dichter in Ex-Jugoslawien hätten von der ethnischen Säuberung geträumt. Gibt es dafür andere Beispiele?

Koschorke: Ja, also Karadzic wird da jetzt nicht das prominenteste Beispiel sein. Wir haben ja das Gedicht gerade gehört. Das ist auch eher etwas schwieriger, eher tatsächlich etwas avantgardistischer und sicher kein Volkslied. Aber es gibt eine Volksepik in Serbien, die sehr mächtig ist, die auch von den Soldaten gesungen wird, und eines der bekannten Liederzyklen, was auch in Schulen Schulstoff war oder noch ist möglicherweise, heißt "Der Bergkranz", es stammt aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, von einem montenegrinischen Bischof geschrieben, und da geht es in der Tat … Da wird besungen, wie man beschließt, sämtliche Muslime entweder zu vertreiben oder zu massakrieren, und das auch noch am Heiligen Abend. Es wird als ein großes, ich würde sagen, heiliges Gemetzel besungen. Und das gehört irgendwie zur serbischen Volkspoesie. Also man sieht hier den Zusammenhang sehr eng zwischen einer nationalistischen Dichtung und dem, was dann in solchen Bürgerkriegen mindestens aktiviert wird für militärische Zusammenhänge.

Meyer: "Despoten dichten: Sprachkunst und Gewalt", so heißt dieses Buch über literarische Texte von Despoten des 20. Jahrhunderts. Das Buch ist bei Konstanz/University Press erschienen, Albrecht Koschorke ist einer der Herausgeber. Vielen Dank für das Gespräch, Herr Koschorke!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.