Vorgegaukelter Notstand

Von Gunter Hofmann · 26.07.2005
In einem gewissen Sinne, ja, sind die Fesseln durchschnitten worden mit dem Beschluss Horst Köhlers, Bundestagsneuwahlen auf den 18. September festzusetzen. Unterstellt, das Verfassungsgericht reagiert positiv, kommt also Bewegung in die Politik, die spätestens seit der Kapitulation des Kanzlers stille zu stehen scheint.
Ich möchte mich hier aber mit der Frage befassen, wie es überhaupt dazu gekommen ist, dass sich dieses Bild von der "blockierten Republik" derart festsetzen konnte. Zum ersten Mal benutzten meiner Erinnerung nach Professoren, die Gerhard Schröder als Modernisierungskanzler anspornen wollten, die Metapher von der blockierten Republik. Nach ihrem Urteil hatte sich die alte Bundesrepublik als System selbst gelähmt, ihre einstigen Vorzüge, vor allem der hohe Standard des Sozialstaats und der regulierte Arbeitsmarkt, würden im Globalisierungszeitalter zum Ballast, der sie zu erwürgen drohe. Das traf sich mit den Parolen von neoliberaler Seite, und fortan war die Kritik von links und die von rechts, altmodisch formuliert, schwer auseinander zuhalten. Solche Kritik hatte einen langen Vorlauf. Der CDU-Politiker Heiner Geißler nannte Anfang der 90er Jahre Helmut Kohl einen "Tunix"-Kanzler, der Politik nicht gestalte, jedenfalls nicht beizeiten. Bundespräsident Roman Herzog hielt dann, die Kohl-Ära war zu Ende, seine berühmte Ruck-Rede. Mal kam die Kritik von links, mal von rechts. Das Pauschalbild von der Krisenrepublik tauchte auf.

Es folgte: Schröders siebenjährige Kanzlerschaft. Schröder, das wird ein Rückblick aus Distanz wohl noch genauer zeigen, hat sich gelegentlich die Ruck-Philosophie zu eigen gemacht und dann, besonders mit der Agenda 2010, "mir nach!" verlangt - obwohl er kein autoritärer Kanzler war. Dann aber hat er auch wieder auf einen Ruck von oben verzichten und die Republik ihren Selbstkorrekturkräften überlassen wollen. Befördert wurde das noch durch die Einsicht, dass das ganze Bild von der blockierten und gefesselten Republik in der Krise die wahre Lage völlig überzeichne. Auch darin schwankte aber sein Urteil. Zum Schluss allerdings, mit seiner Entscheidung, Neuwahlen anzustreben, hat er sich sozusagen mit sich selber auf eine einzige Interpretation verständigt: die nämlich, dass mit ihm die Republik in Fesseln liegt, also in höchster Not sei. Seine Rückzugs-Idee konnte er nur begründen, wenn er sich der dramatischsten aller Lagebeschreibungen anschloss: Nichts geht mehr, lautete seine steil überzogene Botschaft. Als Angela Merkel ausgerechnet in dem Moment, in dem es auf Differenziertheit, auf Sensibilität für ein objektives Problem moderner Regierungschefs in modernen Zeiten angekommen wäre, das Wort vom "Durchregieren" über die Lippen kam, hatte man des Gefühl, ihr fehle jedes Gespür dafür, weshalb der starke Kohl als Tunix-Kanzler apostrophiert wurde, weshalb Herzog in eine autoritäre Ruck-Philosophie flüchtete und Schröder sieben Jahre lang zwischen "Chefsache" und Laxheit, zwischen einem pauschalen Stillstands-Befund und einer exakteren Fehleranalyse lavierte. Durchregieren heißt ja: Man muss nur die Fesseln durchschneiden, und schon ist die Republik in Bewegung.

Diese Philosophie, fürchte ich, liegt gerade auch der Köhlerschen Haltung zugrunde. Dass er den Weg zu Wahlen freimachte, ist nur zu verständlich. Aber, dass er das begründete mit einer extremen Krisenphilosophie, verrät, wie sehr er das Missverständnis von Herzog potenziert und wiederholt. Schröder, könnte man sagen, hat keinen anderen Ausweg gewusst und sich, wie es beim Bergsteigen heißen würde, verstiegen. Angela Merkel ist dem Irrtum erlegen, wenn Parlaments- und Bundesratsmehrheiten übereinstimmen, seien die Schwächen per Diagnose und im Hauruckverfahren zu beheben - als gebe es nur einen Modernisierungspfad, und als sei eine liberale Gesellschaft von oben zu kurieren. Köhler wiederum handelt aus Überzeugung. Aus unterschiedlichen Motiven sind alle drei bei einem ähnlichen Befund über die Lage der Republik angekommen - der Präsident allerdings überspitzte noch weiter und ist kurz vor der Ausrufung des Notstandes gelandet. In seiner Logik muss den eine neue Regierung auflösen. Die Republik hat sich über die Jahre also selber in eine Krise hineingeredet, die alle Maßstäbe verliert. Die Politiker sind dabei Opfer und Täter zugleich, wenn sie einen Notstand vorgaukeln, dem man nur durch Notstandsmaßnahmen beikommen könne. Sache des Präsidenten wäre es, nüchtern dafür zu sorgen, dass Politik und Öffentlichkeit sich nicht in eine solche Scheinerregung hineinsteigern, aus der man sich dann nur retten zu können glaubt, indem man den großen Ruck verordnet oder erhofft. Ein richtiger Präsident soll Fallen beiseite räumen. So aber steht am Ende die Illusion, es stünde die große Bewegung bevor, und von ihr wiederum seien die großen Lösungen zu erwarten, um die Selbstblockade zu beenden. Die Falle ist zugeschnappt.

Gunter Hofmann, Jahrgang 1942, Dr. phil., seit 1977 bei der Wochenzeitung "Die ZEIT", seit 1994 Büroleiter in Bonn, seit dem Regierungsumzug in Berlin, einer der angesehensten Beobachter des deutschen Politikbetriebs, jüngste Buchveröffentlichung: Abschiede, Anfänge. Die Bundesrepublik. Eine Anatomie.