Vordenker des Dschihads

Rezensiert von Abdul-Ahmad Rashid · 06.04.2006
Der französische Islamwissenschaftler Gilles Kepel gilt als einer der profundesten Kenner des militanten Islamismus. Nun ist die deutsche Ausgabe des von ihm im vergangenen Jahr herausgegebenen Buches "Al-Qaida. Texte des Terrors" erschienen, in dem zum ersten Mal kritisch kommentierte Originaltexte der vier Protagonisten von Al Qaida versammelt sind, neben Bin Laden auch die seines ägyptischen Kollegen Ayman az-Zawahiri, des palästinensischen Theologen Abdullah Azzam und schließlich des irakischen Chefterroristen Abu Mus’ab az-Zarqawi.
Als im Jahr 1979 die sowjetische Armee Afghanistan besetzt, beginnt ein zehn Jahre andauernder Krieg zwischen den Invasoren und den afghanischen Widerstandskämpfern. Die Auseinandersetzung war für die Afghanen auch religiös motiviert: Da die muslimische Mehrheitsbevölkerung die Ausübung ihres Glaubens bedroht sah, hielten die Kämpfer es für ihre religiöse Pflicht, die "Ungläubigen" aus ihrem Land zu vertreiben. Unterstützt wurden sie dabei von einer großen Anzahl junger Muslime aus den arabischen Ländern.

Das ideologische Rüstzeug für ihren Kampf bezogen sie dabei nicht nur aus dem Koran, sondern auch aus den Schriften von einigen intellektuellen Vordenkern, die Interesse daran hatten, den "Dschihad" der Afghanen für den radikalen Islamismus zu vereinnahmen. Einer von ihnen war der Palästinenser Abdullah Azzam. 1941 in der West-Bank geboren, studierte er in Damaskus Theologie und trat zu dieser Zeit in die Bewegung der streng religiösen Muslimbrüder ein. Aktiv beteiligte er sich am palästinensischen Widerstand gegen die israelische Besatzung. Dabei entwickelte er die Idee eines bewaffneten Kampfes als Pflicht für alle Muslime in der Welt. In dem nun erschienen Band "Al-Qaida. Texte des Terrors" wird Azzam als "Pate des Dschihads" vorgestellt. Die Verfasser, der bekannte französische Islamwissenschaftler Gilles Kepel und sein Kollege Jean-Pierre Milleli, betonen dabei seine exponierte Stellung:

"Azzam formulierte als einer der ersten eine eher globale Vision des Heiligen Krieges und bereitete damit den Weg für Osama Bin Laden und den totalen, weltumspannenden Krieg von Al-Qaida gegen ‚das Bündnis der Juden und Kreuzfahrer.’ In diesem Sinne war Abdullah Azzam in der Tat der erste Theoretiker des weltweiten Dschihads."

Azzam rückte in diesem Zusammenhang vor allem den Märtyrerkult in den Vordergrund seiner theoretischen Ausführungen und begründete somit eine neue Schule unter den Islamisten. So schreibt er in einem mit "Sitten und Recht des Dschihads" übertitelten Text:
"Das Töten und das Kämpfen sind eine Notwendigkeit, die den Muslimen auferlegt worden ist, weil sie das Banner der Einzigartigkeit Gottes tragen müssen und den Befehl erhalten haben, es auf jedem Hügel und in jeder Ebene aufzupflanzen."

In den vorliegenden Texten, die größtenteils radikal-islamistischen Internetseiten entnommen wurden, unterstreicht Azzam die Pflicht eines jeden Muslims zum Heiligen Krieg und ruft die Muslime in der Welt auf, die Afghanen bei ihrem Kampf zu unterstützen. Doch auch nach dem Abzug der russischen Truppen entwickelte sich die Idee des bewaffneten islamischen Kampfes weiter. Hatte sich die Auseinandersetzung vorher nur auf das zentralasiatische Land beschränkt, bekommt jetzt der Dschihad eine internationale Dimension. Neue Ideologen treten auf die Bühne, die in ihren Schriften noch radikaler sind als Azzam. So gilt der Ägypter Ayman az-Zawahiri als Bindeglied zwischen dem 1989 ermordeten Palästinenser und den Guerillakämpfern der 1990er Jahre. Die Verfasser des Buches "Al-Qaida. Texte des Terrors" nennen ihn den wuchtigsten Denker der Bewegung:

"Offenkundig kennt er die militanten Schriften der ägyptischen Islamisten sehr genau, und er radikalisiert ihre Stoßrichtung in einer Weise, die an die messianischen Züge protestantischer Millenaristen erinnert, an die RAF in Deutschland, die Roten Brigaden in Italien oder die Action directe in Frankreich."

Ende der 1990er Jahre schloss sich az-Zawahiri dem Saudi-Araber Osama bin Laden und dessen internationalen Front für einen "Dschihad gegen die Juden und Kreuzfahrer" an. In dieser Zeit arbeitete er seine Ideologie aus. In dieser verbietet er beispielsweise den gläubigen Muslimen, Freundschaft mit Andersgläubigen zu knüpfen, da sie diesen in jeglicher Hinsicht weitaus überlegen seien. Besonders was Juden und Amerikaner betrifft, hat er eine spezifische Meinung, die er in der 2001 veröffentlichten Kampfschrift "Ritter unter dem Banner des Propheten" verbreitet:

"Man kann einem Amerikaner oder einem Juden stets auf der Straße nachschleichen und ihn mit einem Revolverschuß oder Messerstich, mit einem selbstgebastelten Sprengsatz oder mit einem Hieb mit einer Eisenstange töten. Ihr Eigentum mit einem Molotowcocktail in Brand setzen, geht ganz leicht. Mit den verfügbaren Mitteln können kleine Gruppen unter den Amerikanern und Juden Angst und Schrecken verbreiten."

Solche menschenverachtenden Aussagen lassen den Leser erschaudern. Auch wenn die Authenzität der im "Texte des Terrors" abgedruckten Schriften nach Aussage der Verfasser nicht immer ganz klar erfasst werden kann, so sind sie dennoch in ihrer Radikalität erschreckend und beunruhigend. Sie geben einen Einblick in den ideologischen Überbau der Terrororganisation Al-Qaida, dieser Bewegung, die mittelalterliche Motive wie den Märtyrertod mit hochmodernen High-Tech-Instrumenten verbindet, um ihre grausamen Ziele zu verwirklichen.

Von Az-Zawahiri spannen die Autoren des Buches einen Bogen zu dem Jordanier Abu Mus’ab az-Zarqawi. Seine Texte bescheinigen dem Topterroristen im Vergleich zu Azzam oder Az-Zawahiri geringere intellektuelle Fähigkeiten, doch nicht weniger Radikalität in der Wahl seiner Mittel. Das gleiche trifft auf Osama bin Laden zu, der ausführlich im ersten Kapitel des Buchs behandelt wird. Dessen Reden sind aber mittlerweile oft publiziert worden und so enthalten auch die im Buch abgedruckten Texte nichts wirklich Neues.

Auch aus der Lektüre der anderen im Buch vorgestellten Schriften ergeben sich keine wirklich neuen Aufschlüsse. Insbesondere der gesalbte und frömmlerische Sprachduktus dieser Texte wirkt auf die Dauer ermüdend. Die Logik der Argumentation ruft bei Lesen immer wieder Kopfschütteln hervor, besonders wenn versucht wird, neuzeitliche Konflikte mit Belegstellen aus den Werken frühislamischer Theologen zu interpretieren.

Interessant dagegen sind die den Texten vorangestellten Biographien: Hier erfährt der Leser manches über den Werdegang der vier Männer, was bislang noch nicht bekannt war. Sie geben einen guten Überblick darüber, wie die momentan gefährlichste Terrororganisation der Welt im Laufe der Jahrzehnte entstanden ist und es geschafft hat, eine große Zahl von fanatischen Anhängern um sich zu scharen.


"Al-Qaida. Texte des Terrors". Herausgegeben von Giles Kepel und Jean-Pierre Milelli
Übersetzt von Bertold Galli, Enrico Heinemann, Ursel Schäfer und Thorsten Schmidt
Piper-Verlag März 2006
515 Seiten. 24,90 Euro