Vor der Parlamentswahl in Venezuela

Im Land des Mangels

Kunden stehen im Supermarkt in Caracas, Venezuela, vor leeren Regalen.
Kunden stehen im Supermarkt in Caracas, Venezuela, vor leeren Regalen. © picture alliance / dpa
Von Anne-Katrin Mellmann · 03.12.2015
Bei der Parlamentswahl in Venezuela könnten die Sozialisten ihre Mehrheit in der Nationalversammlung verlieren. Ihre Strategie, mit dem Erlös aus dem Erdöl-Export Sozialprogramme zu finanzieren, geht seit dem Preisverfall von Rohöl nicht mehr auf - mit heftigen Folgen für die Bevölkerung.
Nur ein kleiner Funken reicht: Nur die Frage an die Wartenden vor einem Supermarkt mit subventionierten Lebensmitteln in Caracas, seit wann sie in der endlosen Schlange stehen, und schon bricht sich die Wut über die Misere Bahn. Aufgebrachte ältere Frauen streiten mit einem Mann, der die Regierung verteidigt.
Es sei nicht verwunderlich, dass die Menschen die Beherrschung verlieren, erklärt Lisbeth, eine energische 41-Jährige mit strengem Zopf. In dem ärmlichen Stadtviertel "23. Januar" arbeitet sie für eine der Basisorganisationen, die "colectivos", die eigentlich als Unterstützer der regierenden sozialistischen Partei Venezuelas gelten.
"Die Hitze, die Müdigkeit… Wenn die Leute die ganze Nacht hier verbracht haben, sind sie müde. Wenn Du leer ausgehst, was dann? Oder du spürst die ganze Nacht lang den Hunger, bist müde, und dann kommst du rein, und es gibt kein Huhn mehr. Das kommt vor. Du hast die ganze Nacht in der Hoffnung verbracht, ein Huhn, Mehl oder Milch und Zucker zu ergattern, und wenn du dann reinkommst, gibt es nichts. Das ist doch Wahnsinn!"
Lisbeth arbeit in dem ärmlichen Stadtviertel "23. Januar" in Caracas für eine der Basisorganisationen, die "colectivos".
Lisbeth arbeit in dem ärmlichen Stadtviertel "23. Januar" in Caracas für eine der Basisorganisationen, die "colectivos".© Deutschlandradio / Anne-Katrin Mellmann
Lisbeth ist wütend über den immer extremer werdenden Mangel. Mit ihrem "colectivo" betreibt sie ein Stadtteil-Radio, gleich neben dem Lebensmittel-Laden. Bis auf weiteres sendet sie nur Musik. So läuft sie nicht Gefahr, sich mit ihrer kritischen Haltung den Mund zu verbrennen. Seit einigen Monaten sieht Lisbeth täglich, wie nebenan schon mittags die ersten kommen und eine Schlange bilden. Sie verbringen Nachmittag, Abend und Nacht am Straßenrand, damit sie am nächsten Morgen etwas ergattern können. Jeder darf nur einmal in der Woche hinein – je nach Personalausweisnummer. Es ist reine Glückssache, ob an dem Tag das verkauft wird, was man braucht. Bier und Coca Cola gibt es immer, Maismehl und Milch immer seltener. Medikamente fehlen.
Dazu kommt eine Inflation von etwa 200 Prozent. Die ohnehin niedrigen Einkommen sind täglich weniger wert. Der Mangel verletzt die Würde der Menschen: Es gibt keine Hygieneartikel für Frauen, keine Windeln, auch nicht für Alte, was Lisbeth besonders schmerzt, denn sie pflegt ihre bettlägerige Mutter. In der Schlange stehen müssen die ganze Nacht – dafür habe sie nicht die Revolution unterstützt, schimpft sie. Der Begriff "Revolution" gehört zum Sprachgebrauch der Anhänger des verstorbenen Präsidenten Hugo Chávez, der Chavisten. Obwohl in Venezuela nie eine Revolution stattfand, Chávez wurde mehrfach demokratisch gewählt.
"Uns geht es so schlecht, dass die Leute sogar ihre kranken Angehörigen in den Supermarkt bringen müssen. Man verkauft nur denen etwas, die persönlich erscheinen. Sie schieben sie manchmal sogar in Rollstühlen hierher. Andere Kranke müssen eine Stunde Fußmarsch von ihrem Haus bis zum Supermarkt zurücklegen."
Seit dem Preisverfall für Öl ist die Staatskasse leer
Zu der Versorgungskrise geführt haben Misswirtschaft, Enteignung privater Unternehmen, Preiskontrollen, Inflation und die starke Importabhängigkeit. Dabei hat Venezuela die größten Erdölreserven der Welt. Wie ihre Vorgänger aus der reichen Oberschicht hat sich auch die sozialistische Regierung in ihren fast 17 Amtsjahren auf die Devisen-Einnahmen aus dem sprudelnden Erdöl-Geschäft verlassen. Sowohl Hugo Chávez als auch nach seinem Tod 2013 der unpopuläre Nachfolger Nicolas Maduro haben mit dem Ölexport ihre Sozialprogramme finanziert und: die Lebensmittelimporte. Seit dem Preisverfall für Öl ist die Staatskasse leer. Präsident Maduro spricht von Wirtschaftskrieg. Er gibt der Bourgeoisie die Schuld am Mangel. Jetzt, kurz vor der Parlamentswahl, setzt seine Partei auf den Rückhalt der ärmeren Bevölkerungsschichten, die in Stadtvierteln wie dem "23. Januar" leben. Menschen, deren beschwerlichen Alltag Hugo Chávez verbessern wollte.
Menschen wie Lisbeth. Sie glaubt nicht an einen weiteren Wahlsieg der Chavisten. Das Vertrauen sei zerstört:
"Unsere Misere ist dem Chavismus zu verdanken, der Umgestaltung der Gesellschaft. Der Staat ist dafür verantwortlich. Sie können mir nicht die Schuld anhängen, wenn ich gegen sie stimme oder nicht zur Wahl gehe, denn sie sind verantwortlich für ihre schlechte Politik, für ihre Korruption. Sie haben unsere Hoffnung zerstört. Damit ist ein Prozess zu Ende gegangen, der eine Referenz für ganz Lateinamerika und die Welt hätte sein können. Wir hätten ein Land sein können mit einem Sozialismus, in dem die Menschen würdevoll leben. Wir hätten bessere Bedingungen schaffen können, mehr Lebensqualität, aber sie haben alles zunichte gemacht."
Am anderen Ende der Stadt, in einem Bezirk der gehobenen Mittelschicht: Nach einem Englisch-Seminar an der Privatuniversität UNE plaudert Tourismusstudent José Luis Alarcón noch kurz mit seinen Kommilitonen. Eine Studentin berichtet von ihrer USA-Reise. Zum Einkaufen sei die dort gewesen. Seife und Shampoo habe sie mitgebracht. Auch das ist zu Hause Mangelware, für alle, auch für die Reichen – von Präsident Maduro Bourgeoisie genannt.
Der Tourismusstudent José Luis Alarcón 
Der venezolanische Tourismusstudent José Luis Alarcón kommt kaum raus aus dem Land.© Deutschlandradio / Anne-Katrin Mellmann
José Luis, ein gutaussehender 28-Jähriger, hört aufmerksam zu. Er liebt das Reisen. Seine Diplomarbeit schreibt er über Rucksacktourismus. Es kommen aber kaum noch Backpacker nach Venezuela. Würden sie Geld zum offiziellen Kurs tauschen, wäre das Reisen unbezahlbar. Würden sie auf dem Schwarzmarkt tauschen, wäre ein extra Rucksack für die vielen Scheine nötig. Hundert Bolívares ist der größte Schein. Dabei kostet ein Essen im Restaurant schon etwa 4000. José Luis kommt kaum raus aus dem Land. Auch Devisen sind Mangelware. Was man fürs Reisen braucht, gibt es, wenn überhaupt, nur auf Zuteilung.
"Es ist sehr schwierig. Als ich zuletzt in Trinidad und Tobago war, war ich finanziell von meiner Freundin abhängig, die ein Bankkonto im Ausland und dadurch Zugang zu Devisen hat. Eine Europareise konnte ich unternehmen, weil ich Glück hatte und mein Devisenantrag genehmigt wurde. Der Staat gibt dir – wenn du Glück hast – De-visen zum günstigen Umtauschkurs. Sie haben mir den Kauf von 3000 Dollar genehmigt. Du bekommst von der Bank 500 in bar, 2500 werden auf einer Kreditkarte gut geschrieben. Du kannst aber nicht alles am Bankautomaten ziehen. Du musst das Geld von der Kreditkarte für Einkäufe ausgeben. Das schränkt dich ein, denn man bekommt eben nur 500 Dollar Bargeld."
Er müsse um etwas betteln, was ihm eigentlich zustehe, sagt José Luis, steigt in sein Auto und macht sich auf den Heimweg...
Junge Menschen können in Zeiten der Inflation nichts aufbauen
Einen Dollar für 6,2 Bolívares – das ist der offizielle Umtauschkurs. Auf dem Schwarzmarkt kostet ein Dollar derzeit aber mehr als 700 Bolívares. Wenn José Luis jemanden vom Flughafen abholt und dafür 20 Dollar Trinkgeld bekommt, hat er also 14.000 Bolívares verdient. Das ist weit mehr als der Mindestlohn. Der liegt bei 9500 – im Monat. Es gibt noch zwei weitere offizielle Umtauschkurse, die den Schwarzmarktwert eigentlich senken sollen. Aber das Gegenteil ist eingetreten. Die Finanzpolitik, die den Wert des Bolívar künstlich hoch hält, hat den Venezolanern nicht geholfen, sondern geschadet.
Junge Menschen wie José Luis sehen pessimistisch in die Zukunft, können in Zeiten der Inflation nichts aufbauen. Das Vertrauen in die Fähigkeiten der Regierung ist zerstört. Viele von José Luis Freunden sind deshalb schon ins Ausland gegangen.
"Die Bevölkerung wird verspottet. So hat es sich entwickelt. Leider ist der Alltag in Venezuela traurig und trostlos. Wir müssen auf die Straße gehen und etwas unternehmen."
Das ist im vergangenen Jahr oft passiert – mit blutigem Ende: Bei Straßenprotesten starben mehr als 40 Menschen. Jetzt herrscht gespannte Ruhe. Die Menschen warten auf die Wahl. Es ist zwar nur eine Parlamentswahl, aber die könnte das Ende des Sozialismus einläuten. Dieser venezolanische Sozialismus, dem Hugo Chávez seinen Namen gab, erlebt einen kritischen Moment.
Denn die Verbesserungen für die arme Bevölkerung, wie mehr Teilhabe an der Demokratie, bessere Gesundheitsversorgung und subventionierte Lebensmittel nutzen wenig, wenn die Wirtschaft am Boden liegt. Eine Wirtschaft, die keineswegs sozialistisch, sondern weiterhin marktwirtschaftlich funktioniert. Die bestimmenden Themen aller Bevölkerungsschichten, egal ob arm oder reich, sind die hohe Inflation und die Versorgungskrise. Die Machtbasis der Chavisten bröckelt. Abgehoben von den Problemen der einfachen Leute reagiert die Regierung von Nicolás Maduro hilflos. In die ohnehin stark polarisierte Gesellschaft treibt sie den Keil noch tiefer.
Allabendlich schlägt die Stunde der Fernseh-Demagogen: Die linientreuen Kanäle - und das sind inzwischen fast alle – preisen die Errungenschaften der Revolution. Oder sie ziehen angebliche Konterrevolutionäre durch den Dreck. Die Sendung mit jugendlich anmutenden Moderatoren, mit Gitarrenmusik unterlegt, soll jüngere Venezolaner indoktrinieren. Die Moderatoren zeigen das Foto eines inhaftierten Oppositionspolitikers. Mit darauf: ein zweiter, der ihn im Gefängnis besucht. Fazit des Moderatorenduos: Die müssen homosexuell sein. Man klopft sich auf die Schenkel. Schwule beleidigen – das gehört zum Staatsfernsehen im Jahr 2015.
Es gibt nur wenige gemäßigte Journalisten
Auf einem anderen Kanal monologisiert Präsident Maduro vor Publikum stundenlang über die Verfehlungen der Bourgeoisie, die das Volk ausraube. Der Zögling von Hugo Chávez gibt sich wie ein Grundschullehrer, das Publikum pariert artig.
... Parasiten des Kapitalismus seien alle, die nicht auf Seiten der Regierung stehen. Nach wie vor tut in Venezuela niemand etwas gegen die Polarisierung. Auch die Opposition nicht.
Einer der wenigen gemäßigten Journalisten und Politiker ist Vladimir Villegas. In seiner Sendung "Vladimir um Eins" des Kanals Globovision kommen Vertreter aller Seiten zu Wort. Villegas war einst Chavist, arbeitete für die Regierung von Hugo Chávez, wandte sich jedoch ab, so wie viele andere, und gründete eine eigene, linke Partei. Die Parlamentswahl zu verlieren könnte aus seiner Sicht heilsam für die sozialistische Partei sein...
"Es müsste dann eine Veränderung in der Führung der Partei PSUV geben. Sie hat schwere Fehler gemacht, vor allem wirtschaftliche. Egal, ob sie gewinnt oder verliert – die größte Herausforderung für die sozialistische Partei in Venezuela heißt: sich selbst zu verändern, die Art zu regieren, die Art, mit dem Rest der Gesellschaft und auch mit den eigenen Anhängern umzugehen. Das Problem ist immer: Siege fördern den Willen zur Veränderung nicht."
Die Warnsignale hat die PSUV schon bei den letzten Wahlen nicht sehen wollen, weil sie immer die Mehrheit bekam – wenn auch eine immer knappere.
Noch ist unklar, was die Parlamentswahl ergeben wird. Eine Mehrheit zeichnet sich derzeit für die "ninis" ab, Abkürzung für "Ni gobierno, ni oposicion", Menschen, die weder der Regierung noch der Opposition ihre Stimme geben wollen. Sollte das Oppositionsbündnis, das sich den Namen "Tisch der demokratischen Union" gegeben hat, gewinnen, wäre das noch nicht das Ende der Sozialisten, höchstens der Anfang vom Ende. Denn bis zur Präsidentenwahl dauert es noch vier Jahre. Aber die Opposition könnte den Prozess beschleunigen, indem sie mit einer Parlamentsmehrheit ein Referendum zur Neuwahl des Präsidenten beschließt. Das wäre schon 2016 möglich. Wenn sich die Oppositionellen nicht selber im Weg stehen, schränkt Benjamin Reichenbach ein. Er leitet das Venezuela-Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung:
"Das Kernproblem der venezolanischen Opposition ist, dass sie keine klaren Konzepte hat und dass ihr Programm erst einmal im Regierungswechsel besteht. Was dann genau passiert, ist nicht klar. Natürlich würde die Opposition die Wirtschaft flexibilisieren und mehr auf Marktöffnung drängen. Ich sehe da sehr, sehr viele Fragezeichen. Das ist natürlich auch eine Befürchtung oder Unsicherheit gegenüber der Opposition. Die Opposition hat in der Bevölkerung nicht das Vertrauen, die Probleme auch lösen zu können."
Lisbeth ist überzeugt davon, dass niemand in ihrem Viertel – sollte die Regierung die Wahl verlieren – die so genannten "Errungenschaften" des Sozialismus verteidigen würde, selbst die bewaffneten "colectivos" nicht. Venezuela wird nicht um wirtschaftliche Reformen herum kommen. Allen politischen Akteuren ist klar, dass der Preis hoch sein wird: Eine Währungsreform zum Beispiel wäre vor allem für die ärmeren Bevölkerungsschichten sehr schmerzhaft. Das ist auch der venezolanischen Opposition bewusst. Es wird vielleicht ein Venezuela ohne Maduro geben, aber nicht mehr ohne eine Kraft, die den sozialen Ausgleich sucht – ob sie sich dann noch Chavismus nennt oder nicht.
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