Vor der Frankfurter Buchmesse

Gesellschaftskritische Literaturtipps aus Frankreich

Buchcover von Edouard Louis' "Im Herzen der Gewalt", Fouad Larouis "Im aussichtslosen Kampf zwischen Dir und der Welt" und Arthur Dreyfus' "Sans Véronique"
Neue Literatur aus Frankreich: Gewalt der Abgehängten kein Thema mehr © Gallimard Verlag/ Merlin Verlag/ S. Fischer Verlag
Dina Netz im Gespräch mit Frank Meyer · 20.09.2017
Didier Eribon, Rachid Benzine – Bücher dieser und vieler anderer französisch-sprachiger Autoren erscheinen pünktlich zur Frankfurter Buchmesse. Die Literaturkritikerin Dina Netz stellt eine Auswahl vor, die sich alle kritisch mit der gesellschaftlichen Situation Frankreichs auseinandersetzen.
Frankreich ist im Oktober Ehrengast der Frankfurter Buchmesse, und aus diesem Anlass erscheinen stapelweise französische Bücher in deutschen Übersetzungen bei uns. Die Literaturkritikerin Dina Netz stellt im Gespräch mit Frank Meyer Bücher vor, die sich damit auseinandersetzen.
Frank Meyer: In vielen der Bücher aus Frankreich geht es um die Verwerfungen in der französischen Gesellschaft. Wir hören davon ja auch immer wieder in den Nachrichten, von Attentaten, von der hohen Jugendarbeitslosigkeit, von der Krise der Wirtschaft in Frankreich. Frau Netz, ich nehme an, dass das sehr verschiedene Bücher sind, die Sie sich angesehen haben. Haben Sie trotzdem so etwas wie einen gemeinsamen Nenner ausmachen können?
Dina Netz: Es gibt durchaus so etwas wie ein gemeinsames Thema, und das wäre die Gewalt. Einige Bücher setzen sich mit der ganz offensichtlichen, physischen Gewalt auseinander, die zum Beispiel Islamisten in Frankreich verüben. Anlass für diese Romane sind meist die Attentate in Paris vom November 2015. Das war ein traumatisches Erlebnis für viele Franzosen. Und dann gibt es Bücher, die sich mit einer anderen Gewalt auseinandersetzen, die tiefer liegt, die sich als Spannung zwischen den sozialen Schichten in Frankreich angestaut hat und die sich natürlich am Ende oft auch in Gewalttaten gegen Menschen entlädt.

Physische und strukturelle Gewalt

Meyer: Bei einigen steckt ja die Gewalt schon im Titel. Zum Beispiel der Roman "Im Herzen der Gewalt" von Eduard Louis. Von welchen Formen der Gewalt erzählt er denn?
Netz: Vordergründig geht es bei Louis erst einmal um körperliche Gewaltanwendung. Der Erzähler namens Eddie, den man sich wohl so als Alter Ego von Eduard Louis vorstellen darf, der Erzähler also verbringt mit seinen Freunden Didier und Geoffroy den Heiligabend in Paris. Das sind reale Freunde, der Schriftsteller Didier Eribon und der Soziologe Geoffroy de Lagasnerie. Und auf dem Heimweg spricht ein junger Mann den Erzähler an, macht ihn an. Der Erzähler nimmt diesen Reda dann mit zu sich, und die Nacht beginnt als Liebesnacht. Aber dann kommt der Moment, in dem der Erzähler feststellt, dass sein Handy und sein Tablet fehlen. Ihm ist klar, dass nur Reda sie gestohlen haben kann. Er spricht ihn drauf an, und in dem Moment kippt die Stimmung, Reda wird gewalttätig, vergewaltigt ihn, bedroht ihn mit einer Waffe, bis Eddy es dann schafft, ihn in den frühen Morgenstunden rauszuwerfen.
Meyer: Das klingt jetzt erstmal nach einer persönlichen Erfahrung, einer autobiografischen Erfahrung, einer traumatischen natürlich. Geht das Buch denn darüber hinaus, über diese persönliche Erfahrung?

Erzählung und soziologische Analyse

Netz: Ja, das geht es. Wie auch Louis' erster Roman, "Das Ende von Eddy", ist dieses Buch nicht bloß eine autobiografische Erzählung, sondern anhand des persönlich Erlebten vollzieht Louis so eine soziologische Analyse. Er beschäftigt sich intensiv mit der Frage, was Reda zu dieser Gewalttat getrieben hat, und da kommt er dann schnell auf das Herkunftsmilieu, den Vater aus Algerien, der mit vielen Einwanderern in ein Heim gesteckt wurde, in dem kaum Platz zum Schlafen war. Louis erzählt von einer durch und durch rassistischen Gesellschaft. Das beschreibt er vor allem anhand der Polizeiverhöre, die er erlebt. Sobald er sagt, dass Redas Familie aus Algerien stammt, meinen die Polizisten, über alles Bescheid zu wissen. Und eine weitere Ebene baut Louis dann noch ein, indem er die Schwester des Erzählers einschaltet. Sie gibt die Erlebnisse ihres Bruders dann noch einmal aus ihrer Sicht wieder.
Meyer: Und was bringt diese andere Perspektive der Schwester noch ein in das Buch?
Netz: Dadurch treibt Louis die soziologische Analyse im Grunde noch einen Schritt weiter, denn die Schwester spiegelt Redas Gewalt in ihrem eigenen Herkunftsmilieu. Sie erzählt, dass Eddy und seine Kumpel früher selbst geklaut haben, dass ein Cousin von ihnen im Gefängnis saß. Ich denke, es geht Louis damit darum, zu zeigen, dass Gewalt keine Frage der Rassenzugehörigkeit, sondern eher der sozialen Schicht ist. Und damit entschuldigt er Redas Gewalt nicht, aber er setzt sie in einen gesellschaftlichen Kontext.
Meyer: Der Roman "Im Herzen der Gewalt" von Edouard Louis. Sie haben gesagt, da tauchen noch zwei andere Autoren auf in diesem Buch, Didier Eribon und Geoffroy de Lagasnerie. Die drei bilden ja zusammen eine Art Ideengemeinschaft. Können Sie uns mal erklären, was für eine Art Denken die drei verbindet?
Netz: Ich versuche es, in aller gebotenen Kürze. Alle drei eint, dass sie stark politisch denken. Sie äußern sich immer wieder zu tagesaktuellen Fragen in den Medien, und so sind sie natürlich in diesen politisch turbulenten Zeiten auch sehr gefragt. Alle drei haben einen, ich würde es mal nennen, kritischen philosophischen und soziologischen Ansatz. Sie sehen sich in der Tradition von Michel Foucault und auch von Pierre Bourdieu, und sie stellen Herrschaftsstrukturen, hierarchische Strukturen in Gesellschaften in Frage, besonders in Bezug auf die Chancen, die man wegen seiner Herkunft in Frankreich hat oder nicht. Und bei Louis' Debut, "Das Ende von Eddy", da war die Nähe zu Eribons berühmten Buch "Rückkehr nach Reims" ganz offenkundig. Da ging es also wirklich in beiden Büchern anhand autobiografischer Erzählungen um soziologisch untermauerte Analysen der jeweiligen Herkunftsmilieus.

Der strafende Staat

Meyer: Was Sie gerade sagen, Herrschaftsstrukturen in Frage stellen, das scheint ja auch bei den neuen Büchern dieser beiden Autoren der Fall zu sein. Didier Eribon und Geoffroy de Lagasnerie veröffentlichen auch neue Bücher. Das von Eribon heißt "Gesellschaft als Urteil". Da steckt ja die strafende Kraft des Staates schon drin. Das Buch von de Lagasnerie heißt "Verurteilen. Der strafende Staat und die Soziologie". Was sind das für Thesen, denen die beiden folgen in diesen neuen Büchern?
Netz: Eribons Buch, das bei uns erst im Oktober erscheint, ist eine Art Fortsetzung seiner "Rückkehr nach Reims". Er geht erneut vor mit dieser Methode der soziologischen Introspektion, wie er es nennt, wo es also darum geht, in der eigenen die soziale Wirklichkeit zu spiegeln. Und das Thema ist, sehr kurz gesagt, wie fest einen die soziale Herkunft in der Hand hat. Es geht ihm darum, die sozialen und politischen Determinismen aufzuzeigen, die die französische Gesellschaft so stark bestimmen, ganz sicher auch stärker als die deutsche. Und auch de Lagasnerie knüpft mit "Verurteilen. Der strafende Staat und die Soziologie" thematisch an Edouard Louis an, denn der Erzähler bei Louis weigert sich lange, den Vergewaltiger Reda anzuzeigen, weil er diese Gewaltspirale nicht fortsetzen will, indem er ihn ins Gefängnis bringt. Und de Lagasnerie stellt ebenfalls die Logik der Bestrafung in Frage. Er sagt, das Gefängnis, das den Delinquenten eigentlich bessern will, das produziere doch in der Regel eher dessen neue Identität als Verbrecher. Er kritisiert die strafenden staatlichen Institutionen und auch die Soziologie, die sich solchen Themen in der Regel zu unkritisch nähere.
Meyer: Also die beiden schauen auf den Staat, auf strukturelle Gewalt. Sie haben aber auch schon gesagt vorhin, dass diese ganz konkrete Form der Gewalt, die Frankreich so viel erlebt hat in den letzten Jahren, die Attentate, die es gab in dem Land, dass die auch zum Thema der Literatur geworden sind. Wie denn das – was für Bücher gibt es da?

Warum radikalisiert sich der Informatiker?

Netz: Ich würde sagen, die Literatur beschäftigt sich im Moment nicht mehr so sehr mit den Abgehängten der französischen Gesellschaft, bei denen ja offenkundig ist, dass der Islamismus ihnen überhaupt zum ersten Mal eine Perspektive bietet, sondern gleich mehrere Bücher befassen sich mit denen, die eigentlich ihren Platz in der Gesellschaft haben, die aber trotzdem den islamistischen Einflüsterungen erliegen. Studenten kommen da vor, bei Arthur Dreyfus, dessen Roman "Ohne Véronique" erst nächstes Jahr bei uns erscheint, oder auch ein erfolgreicher Informatiker.
Meyer: Und warum wird so jemand zum Beispiel, ein Informatiker, der Erfolg hat, der wahrscheinlich gut verdient, warum wird der dann zum Radikalen?
Netz: Das erzählt Fouad Laroui. Er erzählt von Ali, der eben eigentlich seit zehn Jahren in Paris liebt, erfolgreich ist, mit Malika zusammenlebt, und den beiden liegt das Leben gewissermaßen zu Füßen. Aber dann kommt es zu einer Krise, Ali wird von einem großen Projekt, das er geleitet hat, abgezogen. Es ging um ein Rüstungsprojekt, und die staatlichen Auftraggeber haben ihn offenbar wegen seines arabischen Nachnamens von der Liste der Beschäftigten gestrichen. Er rutscht danach in eine Depression und gerät immer stärker unter den Einfluss seines Cousins, der in islamistischen Kreisen verkehrt. Eines Tages findet Ali sich dann in Rakka wieder. Und interessant ist, dass Fouad Laroui nicht nur seine Figuren sprechen lässt, sondern er schaltet auch immer wieder einen Erzähler ein, der sozusagen die historischen Hintergründe für die Radikalisierung vieler Moslems liefert. Das finde ich jetzt literarisch nicht besonders gelungen, aber man bekommt dadurch mit, dass es in der arabischen und in der westlichen Welt zwei völlig unterschiedliche Erzählungen der Geschichte gibt. Und das erklärt eigentlich auch viele heutige Konflikte.
Meyer: Und würden Sie sagen, dass gerade dieses Buch von Fouad Laroui typisch ist für die Auseinandersetzung in Frankreich mit denen, die eigentlich kluge Köpfe sind und dennoch zu radikalen Islamisten werden?
Netz: Ich würde sagen, dass es typisch ist insofern, als auch andere Bücher geradezu verzweifelt versuchen, einen Dialog zwischen beiden Welten zu stiften. Ich kann da noch Rachid Benzine erwähnen. Der wählt die Form eines Briefromans für die Auseinandersetzung zwischen einem liberalen Denker und seiner Tochter, die sich dem IS angeschlossen hat. Dabei ist sie eine kluge junge Frau, die studiert hat. Der Vater fällt aus allen Wolken. Und in diesen Briefen versuchen die beiden eben, sich gegenseitig ihre Denkweisen zu erklären, und das ist das besonders Erschütternde: Nicht mal diese beiden, die sich wirklich sehr lieben, schaffen es, sich einander verständlich zu machen.
Meyer: Wir haben jetzt von Ihnen gehört, die neuen Bücher aus Frankreich schauen von ganz verschiedenen Richtungen auf dieses Thema Gewalt in der französischen Gesellschaft. Gibt es trotzdem so etwas wie einen gemeinsamen Punkt, den diese Bücher erreichen oder ansteuern oder benennen?
Netz: Vielleicht gibt es so einen gemeinsamen Punkt, insofern, als sie noch mal klar machen, dass Gewalt immer aus Gewalt erwächst. Diejenigen, die sich heute radikalen Bewegungen anschließen, haben mit ziemlicher Sicherheit vorher selbst Gewalt erlebt, nicht unbedingt physische, sondern eben in Form von sozialer Ausgrenzung oder Diskriminierung. Auf islamistische Gewalt kann es also eigentlich keine Antwort geben als den Versuch, diese viel subtileren Arten der Gewalt in unseren Gesellschaften zu erkennen und etwas dagegen zu tun. Das ist jetzt überhaupt keine neue Erkenntnis, aber sie ist immer wichtiger und richtiger in einer Welt, die zunehmend von Gewalt geprägt ist. Und das wird aus vielen französischen Neuerscheinungen dieses Herbstes noch einmal sehr deutlich.
Meyer: Neue Literatur aus Frankreich mit dem großen Thema Gewalt in der französischen Gesellschaft. Dina Netz hat sich durch die neuen französischen Bücher gearbeitet. Ganz herzlichen Dank dafür!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Edouard Louis: Im Herzen der Gewalt
Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel
Verlag S. Fischer
224 Seiten, 20 Euro
Didier Eribon: Gesellschaft als Urteil
Aus dem Französischen von Tobias Haberkorn
Suhrkamp Verlag
320 Seiten, 18 Euro (erscheint im Oktober)
Geoffroy de Lagasnerie: Verurteilen. Der strafende Staat und die Soziologie
Aus dem Französischen von Jürgen Schröder
Suhrkamp Verlag
271 Seiten, 26 Euro
Fouad Laroui: Im aussichtslosen Kampf zwischen Dir und der Welt
Aus dem Französischen von Christiane Kayser
Merlin Verlag
238 Seiten, 24 Euro
Rachid Benzine: Der Zorn der Feiglinge
Aus dem Französischen von Regina Keil-Sagawe
persona Verlag
128 Seiten, 17,50 Euro (erscheint im Oktober)
Arthur Dreyfus: Sans Véronique
Verlag Gallimard
256 Seiten, 19,50 Euro
Marc Trévidic: Ahlam oder der Traum von Freiheit
Aus dem Französischen von Regina Keil-Sagawe
Rowohlt Verlag
288 Seiten, 9,99 Euro
lesen Sie hier unser Gespräch mit dem Autor


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