Vor dem G20-Gipfel in Hamburg

"Die Gewinne der Globalisierung müssen besser verteilt werden"

Die Politologin und Leiterin des GIDA-Instituts Amrita Narlikar blickt in die Kamera. Im Hintergrund sind Bücher zu sehen. Sie hat schwarze Haare und trägt ein bunt gemustertes Kleid.
Amrita Narlikar, Politologin und Leiterin des GIGA-Instituts © dpa / picture alliance / Christina Sabrowsky
Amrita Narlikar im Gespräch mit Dieter Kassel  · 05.07.2017
Die Politologin Amrita Narlikar sieht die Globalisierung als Chance: Insgesamt gesehen gehe es allen Ländern besser. Aber die Unterschiede zwischen den Staaten seien zu groß. Sie fordert bessere internationale Vereinbarungen: Globalisierung müsse "für alle in einer Gesellschaft funktionieren".
"Die Globalisierung bietet immer noch sehr vielen unterschiedlichen Menschen sehr viele Möglichkeiten", so lautet die Einschätzung von Amrita Narlikar. Sie ist Professorin für Politikwissenschaft an der Universität Hamburg und Präsidentin des GIGA German Institute of Global and Area Studies.
Narlikar, die an der Vorbereitung des bevorstehenden G20-Gipfels in Hamburg beteiligt war, zeigt jedoch Verständnis für die ablehnende Haltung vieler Menschen zur Globalisierung. Dafür gebe es gewisse Gründe:
"Alle Daten zeigen, dass die Globalisierung allen Ländern insgesamt betrachtet nutzt. Insgesamt gesehen geht es allen Ländern besser. Aber innerhalb der einzelnen Staaten gibt es große Unterschiede. Und die positiven Auswirkungen machen sich nicht immer in allen Ebenen der Gesellschaft bemerkbar."

Zwei Strategien für das Thema Globalisierung

Die Politologin fordert im Deutschlandfunk Kultur zwei Strategien beim Umgang mit dem Thema Globalisierung:
"Als erstes brauchen wir eine ernsthafte und problembewusste Debatte darüber, wie wir sicher stellen können, dass die Gewinne der Globalisierung besser verteilt werden. Das ist etwas, was nicht von oben angeordnet werden kann. Das kann nicht vom G20-Gipfel kommen, von keiner internationalen Organisation. Das muss aus den Ländern selber kommen."
Auf internationaler Ebene sei es unbedingt erforderlich, ein bestimmtes Klima und Umfeld zu schaffen, betonte Narlikar: Man müsse sich darüber einig werden, bestimmte Richtlinien und Gesetze zu verabschieden, die sicher stellten, dass "Globalisierung für alle in einer Gesellschaft funktioniert".
Ein Wasserwerfer der Polizei spritzt am in Hamburg am Neuen Pferdemarkt im Stadtteil St. Pauli Wasser auf eine Menschenmenge. 
Im Stadtteil St. Pauli setzte die Polizei Wasserwerfer ein, um den neuen Pferdemarkt zu räumen.© dpa

Nachdenken über ein "nachhaltiges Wachstumsmodell"

Akademiker, Fachleute und politische Entscheidungsträger und ein Teil der Medien hätten es versäumt, den Menschen den Nutzen der Globalisierung zu vermitteln, kritisiert Narlikar. Insofern bestehen der zweite wichtige Schritt darin, der Globalisierung ein neues Image zu geben:
"Es geht darum, den Leuten die Dinge zu erklären, wirklich zu kommunizieren, was der Nutzen ist. Und wobei der Einzelne das Nachsehen haben könnte. Mit welchen Verlusten man rechnen müsste, wenn die Globalisierung nicht stattfinden und stattdessen eine De-Globalisierung beginnen würde."
Notwendig sei darüber hinaus ein Nachdenken über ein "nachhaltiges Wachstumsmodell" fordert Narlikar. Dafür erhoffe sie sich entscheidende Impulse vom G20-Gastgeberland:
"Deutschland ist Pionier auf dem Gebiet der nachhaltigen Entwicklung und der grünen Wirtschaft. Ich hoffe also, dass dies eine Reihe wichtiger Ideen (bringt), denen der deutsche Gipfel wirklich auf die Sprünge helfen könnte." (ue)

Das Interview im Wortlaut:
Dieter Kassel: Die aus Indien stammende Politikwissenschaftlerin Amrita Narlikar ist die Präsidentin des Hamburger GIGA-Instituts, des ehemaligen Übersee-Instituts, und hat in dieser Funktion auch beratend an der Vorbereitung des G20-Treffens teilgenommen. Ich habe mich vor dieser Sendung mit ihr unterhalten und sie gefragt, ob sie eigentlich Verständnis hat für die vielen Menschen, die gegen dieses Treffen protestieren.
Amrita Narlikar: Das ist eine sehr gute Frage und eine ziemlich relevante Frage. Erstmal direkt zu Ihrer Frage, ob ich Sympathien für diese Leute habe, ob ich verstehe, woher sie kommen – ein klares Ja. Wir sollten eigentlich nicht so überrascht sein, dass es nicht nur diese Demonstrationen gegen den G20-Gipfel gibt, sondern vor allem diese Ablehnung der Globalisierung als Ganzes.
Ich denke, dafür gibt es zwei Gründe. Der eine ist, dass uns alle Daten zeigen, dass die Globalisierung Ländern insgesamt betrachtet nutzt. Insgesamt gesehen, geht es allen Ländern besser. Aber innerhalb der einzelnen Staaten gibt es große Unterschiede. Und die positiven Auswirkungen machen sich nicht immer in allen Ebenen der Gesellschaft bemerkbar. Das ist der erste Grund für diese Ablehnung, und aus diesem Grund können wir auch verstehen, woher die Gegner kommen.
Aber zum zweiten Punkt muss ich sagen, dass wir als Akademiker, als politische Entscheidungsträger, als Fachleute, und auch ein Teil der Medien uns auch wirklich nicht so klug angestellt haben, dabei den Leuten zu erklären, was der Nutzen der Globalisierung ist. Das haben wir ziemlich deutlich beim Brexit-Referendum gesehen, bei dem die Stimme der Brexit-Befürworter sehr kräftig und laut war.
Die Leute dagegen, die das Positive der europäischen Integration, der ökonomischen Integration gesehen haben, also einer Form der Globalisierung, die haben den Leuten nicht gut erklären können, warum sie versuchen sollten, in der EU zu bleiben. Es ist also ein gleichartiges Problem.

Chancen der Globalisierung müssen auf internationaler Ebene verhandelt werden

Kassel: Das klingt mir aber auch danach, als ob Sie eigentlich nicht nur sagen, wir müssen die Chancen der Globalisierung vielleicht ein bisschen besser nutzen, darüber sprechen wir bitte gleich noch, sondern Sie sagen ja auch, die Globalisierung braucht eigentlich ein besseres Image. Wir müssen uns angewöhnen, sie anders darzustellen, nicht nur, wie sie sein könnte, sondern auch, wie sie jetzt schon ist.
Narlikar: Ja, absolut. Ich denke, wir brauchen zwei Strategien. Als Erstes brauchen wir eine wirklich ernsthafte und problembewusste Debatte darüber, wie wir sicherstellen können, dass die Gewinne der Globalisierung besser verteilt werden. Das ist etwas, was nicht von oben angeordnet kann. Das kann nicht vom G20-Gipfel kommen, von keiner internationalen Organisation. Das muss aus den Ländern selbst kommen.
Man kann auf internationaler Ebene aber eine Menge tun. Versuchen, ein Klima, ein Umfeld zu schaffen, in dem anerkannt wird, dass es sinnvoll ist, wenn Länder bestimmte Richtlinien oder Gesetze verabschieden, die sicherstellen, dass die Globalisierung für alle in einer Gesellschaft funktioniert. Diese gesellschaftlichen Maßgaben mögen von Land zu Land verschieden sein, aber die Diskussion darüber muss sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene stattfinden.
Die zweite Strategie besteht durchaus darin, der Globalisierung ein neues Image zu geben, wie Sie das genannt haben. Es geht darum, den Leuten die Dinge zu erklären, wirklich zu kommunizieren, was der Nutzen ist. Und wobei der Einzelne das Nachsehen haben könnte, mit welchen Verlusten man rechnen müsste, wenn die Globalisierung nicht stattfinden und stattdessen eine De-Globalisierung beginnen würde.

Welthandelsorganisation und die Regulierung der Finanzmärkte

Kassel: Aber wenn Sie sagen, der G20-Gipfel selbst kann das nicht tun und der kann das nicht beschließen, was aber kann denn in Hamburg passieren, das das, was Sie gerade schon beschrieben haben und was sie sich wünschen, zumindest ermöglicht.
Narlikar: Um das ganz deutlich zu machen, das habe ich nicht gemeint. Ich meine, das Ganze hat zwei Aspekte. Einer davon ist in der Tat internationaler Art. Auf internationaler Ebene haben wir die Rahmenbedingungen, die die Regeln für die Globalisierung festlegen. Wenn zum Beispiel wie bei der Welthandelsorganisation die Staaten zusammentreffen und entscheiden, wie sie mit ihren Handelsschranken umgehen wollen, oder über die Verpflichtungen, die wir gegen den Klimawandel übernehmen, oder welche Regeln für die Regulierung der Finanzmärkte gefordert sind. Das sind alles internationale Regeln.
Wenn die aber einmal festgelegt sind, gibt es noch einen großen Spielraum, den Regierungen auf nationaler Ebene haben. Es ist also falsch, zu argumentieren, dass aufgrund der Globalisierung die Ärmsten der Armen leiden müssen. Denn es gibt eben noch eine sehr wichtige Ebene dazwischen.
Mit dieser Klarstellung zurück zu Ihrer Frage. Was können die Führer in Hamburg tun, wenn sie sich für den G20-Gipfel treffen? Nun, eine ganze Menge. Zum Beispiel können sie damit anfangen anzuerkennen, dass es eine große Unzufriedenheit mit der Globalisierung gibt. Dass wir vielleicht die Globalisierung neu verhandeln sollten. Wie könnte eine faire Globalisierung aussehen?
Wenn dieser Bedarf eines ernsthaften Neudenkens der Rahmenbedingung einmal identifiziert worden ist, dann könnten die G20-Führer sicherstellen, dass wir nicht alle unsere Zollschranken anheben, dass wir es schaffen, bestimmte Teile unserer Märkte offen zu halten. Dass wir nicht den Weg einschlagen, den viele Ländern nach der großen Wirtschaftskrise genommen haben. Es gibt also sehr viel, was die G20-Führer jetzt tun können.

Macht der Westen Versprechungen, die er niemals einhalten kann?

Kassel: Ich denke bei dem, was Sie sagen, zurück an ein Gespräch, dass ich, es ist auch noch nicht lange her, vor drei Wochen mit Pankaj Mishra geführt habe, einem aus Indien stammenden Autor und Wissenschaftler, er lebt in Großbritannien inzwischen. Und er hat mir gesagt, dass er findet, der Westen, gerade auch Europa, mache seit Jahrzehnten Versprechungen gegenüber dem Rest der Welt, die niemals eingehalten werden können.
Dass es niemals möglich sein wird, für sieben, vielleicht bald acht Milliarden Menschen auf dieser Welt die gleichen Lebensbedingungen zu schaffen, an die man in Mittel- und Westeuropa seit Jahrzehnten gewöhnt ist. Sehen Sie das wirklich anders?
Narlikar: Dieser Aussage kann ich überhaupt nicht zustimmen. Wenn Sie das in einem Entwicklungsland erzählen, wird die unmittelbare Antwort sein, dass es ja sehr schön für Sie sein, sich als Land bereits entwickelt zu haben, und nun zu uns zu kommen, und uns zu erzählen, dass Entwicklung und Wachstum für uns nicht mehr möglich seien. Ich denke, das ist eine Botschaft der Hoffnungslosigkeit. Es könnte vielleicht so kommen, aber es ist mit Sicherheit nichts Unvermeidliches.
Ich sehe das so: Die Globalisierung bietet immer noch sehr vielen unterschiedlichen Menschen sehr viele Möglichkeiten. Bei den Zöllen kann so viel gemacht werden. Europa und die USA können so vieles tun, um ihre Märkte zu öffnen, zum Beispiel für landwirtschaftliche Produkte aus Entwicklungsländern.
Im Gegenzug sollten die aufstrebenden Wirtschaften, so sie denn weiter wachsen, auch in der Lage sein, ihre Märkte zu öffnen. Man muss erkennen, dass es Veränderungen im weltgleichen Gleichgewicht der Macht gibt. Wir haben es mit einer zunehmend multipolaren Welt zu tun.
Deutschland übernimmt zum Beispiel mehr Verantwortung, auch dadurch, dass es jetzt den Gipfel ausrichtet. Wir müssen über ein nachhaltiges Wachstumsmodell nachdenken. Dafür gibt es verschiedene Möglichkeiten. Das ist ein weiterer Grund dafür, dass ich mich freue, dass dieser Gipfel in Deutschland stattfindet, weil Deutschland Pionier ist auf dem Gebiet der nachhaltigen Entwicklung und der grünen Wirtschaft. Ich hoffe also, dass dies eine Reihe wichtiger Ideen (bringen) könnte, denen der deutsche G20-Gipfel wirklich auf die Sprünge helfen könnte.
Kassel: Die Präsidentin des Hamburger GIGA-Instituts, Amrita Narlikar, übersetzt von Mareike Ahmia. Ich habe das Gespräch gestern Nachmittag geführt.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigenverantwortlich.
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