Vor 100 Jahren geboren

Der französische Filmkritiker André Bazin

Der französische Filmregisseur Francois Truffaut. (Undatierte Aufnahme).
Der französische Filmregisseur François Truffaut verdankt seine Karriere wohl nicht zuletzt dem Filmkritiker André Bazin © picture-alliance/dpa/Bert Reisfeld
Von Georg Seeßlen · 18.04.2018
André Bazin gilt als einflussreichster Filmkritiker und Theoretiker, den die französische Kinokultur der Nachkriegszeit hervorgebracht hat. Er hat die Filmclub-Bewegung geprägt und die Filmzeitschrift "Cahiers du Cinéma" gegründet.
Es gibt Geschichten, die lassen sich besser von ihrem Ende als vom Anfang her erzählen. Niemand hätte das besser gewusst als André Bazin, der am 18. April 1918 in Angers im Département Main-et-Loire geboren wurde. Im deutschen Heeresbericht hieß es an diesem Tag:
"Nördlich von Flirey … scheiterte ein starker französischer Vorstoß unter blutigen Verlusten. Von den anderen Kriegsschauplätzen nichts Neues."
Friedlicher und auch poetischer ist das Ende der Lebensgeschichte von André Bazin, dem großen Kritiker, Theoretiker und Philosophen des Kinos. Es ist der 14. November 1958. Es ist empfindlich nass und kalt. Die kleine Kirche in Nogent-sur-Marne ist an diesem Tag überfüllt. Regisseure, Schauspieler, Philosophen und Schriftsteller sind gekommen, um Abschied zu nehmen.
Als der Bestatter die Unmengen von Blumen auf dem Grab, die gutgekleideten Trauernden und den Fuhrpark vor der Kirche sieht, weigert er sich, das für den großen Kritiker und Filmphilosophen ausgerichtete Armenbegräbnis zu akzeptieren. Bezahlt hatte es die Redaktion der "Cahiers du Cinéma". Jene Filmzeitschrift, die André Bazin zusammen mit dem späteren Regisseur Jacques Doniol-Valcroze einst gegründet hatte. Aber: 20 Jahre über Film schreiben, Film lehren, Filmreihen und Festivals organisieren, das alles hat aus Bazin keinen wohlhabenden Mann gemacht. Seine Frau und der Sohn müssen jeden Centime umdrehen.

Viele Regisseure beklagten den Tod Bazins

Schließlich gelingt es Doniol-Valcroze, den Bestattungsunternehmer doch zu überzeugen. Dafür allerdings muss er selbst Hand anlegen, um den Freund unter die Erde zu bringen.
In den Wochen nach diesem denkwürdigen Begräbnis machte sich die Welt, und nicht nur die Filmwelt, nach und nach klar, wen sie da verloren hatte. Unter den Regisseuren, die in Artikeln, Nachrufen und Briefen den Verlust dieses Freundes beklagten, waren Marcel Carné, Luis Buñuel, Federico Fellini, Orson Welles, Robert Bresson und François Truffaut. Der schrieb Jahre später in einer autobiografischen Notiz:
"André Bazin ist der Mensch, den ich in meinem Leben am meisten geliebt und bewundert habe. Ich werde nie erfahren, warum Bazin und seine Frau Janine so besorgt um mich waren, dass sie mich zuerst aus dem Erziehungsheim, dann aus dem Militärgefängnis und schließlich aus der Psychiatrie holten. Filme waren damals wie eine Droge für mich. Ich redete auch gern über Filme, aber ohne Verstand. Bazin, das war der reine Verstand."

"Ich träume von einem spirituellen Regisseur"

Was André Bazin für Truffaut tat, tat er auch für das Kino. Er pfiff auf die Unterscheidung zwischen dem gutbürgerlichen Begriff von Kunst und dem Unterhaltungskino, behandelte die anerkannten Film-Autoren mit ebenso viel Respekt wie zum Beispiel den Western als amerikanisches Kino par excellence.
"Es gibt keinen Zweifel daran, dass die naive Größe des Western von allen einfachen Menschen - und den Kindern - in allen Ländern erkannt wird, trotz der Verschiedenheit der Sprachen, der Landschaften, Gebräuche und der Art, sich zu kleiden. Denn die Helden des Epos in der Tragödie sind universell."
Als André Bazin das schrieb, im Jahr 1955, da waren einige der schönsten Epen im Genre noch gar nicht gedreht, aber Bazin hatte die Augen geöffnet für eine Art von Kino, das nicht aus dem Geist des bürgerlichen Realismus in Europa kam, sondern zugleich moderner war und tiefere Wurzeln in der Kulturgeschichte hatte.
Anders als sein rechtsrheinischer Kollege Siegfried Kracauer hat André Bazin keine kompakte Theorie des Films vorgelegt. Sein Werk, zusammengefasst in den vier Bändern unter dem Titel "Qu’est-ce que c’est que le cinéma", deutsch "Was ist Kino?" besteht aus vielen einzelnen Essays, aus immer neuen Perspektiven und vor allem aus immer neuen Fragen. Bazin behauptet selten, Antworten zu kennen, er macht vielmehr auf die Fragen aufmerksam. Sein Werkzeug ist weniger die Technik als die Psychologie. Sein Ideal:
"Ich träume von einem spirituellen Regisseur, zugleich intelligent, kultiviert und etwas versiert in Psychologie".
Ein paar solcher Filmemacherinnen und Filmemacher hat es im Verlauf des Jahrhunderts gegeben, das ein Jahrhundert der Kriege und des Kinos war.
Mehr zum Thema