Von Verboten und Genuss

Im Rausch der moralischen Askese

Askese waltete in der Einrichtung dieses Raums: Tisch, Stuhl, Leere.
Askese waltete in der Einrichtung dieses Raums: Tisch, Stuhl, Leere. © dpa / picture alliance / Soeren Stache
Von Gesine Palmer · 10.04.2018
Kein Fleisch, kein Nikotin, kein Sex: Je nach politischer Ausrichtung variieren die Objekte des Verzichts. Doch wenn Askese zum moralischen Rausch wird, droht krankhafte Kontrollsucht. Und daraus entsteht Gewalt, mahnt Gesine Palmer.
Als der Psychotherapeut Viktor Frankl Häftling in einem deutschen KZ war, in Auschwitz, machte er eine Beobachtung, die angesichts der extremen Umstände irritieren kann. Er beobachtete, wie sehr es die Menschen stresste, weder Kaffee noch Zigaretten noch Cognac zu haben, um die Anstrengung des erzwungenen Beisammenseins auszuhalten.
In seinem Buch "Trotzdem Ja zum Leben sagen" notierte er später sogar, ohne Genussmittel erscheine ihm das zwischenmenschliche Zusammenleben praktisch unmöglich, jedenfalls aber inhuman.
Tatsächlich haben sich Menschen von jeher und in allen Kulturen bewusstseinsverändernde Substanzen und Rituale gesucht, um es miteinander ein wenig entspannter auszuhalten. Zugespitzt formuliert: Menschen und Kulturen unterscheiden sich nicht danach, ob sie süchtig sind, sondern wonach sie jeweils süchtig sind, welche Süchte bei ihnen erlaubt, welche verpönt sind, und wer sich an die Spitze welcher Bewegung setzt.

Religionssüchtige Islamisten im Teheran der 70er-Jahre

Bis vor 20 Jahren wurde überall geraucht. Bei seiner Ankunft in der Alten Welt galt der in der Neuen Welt entdeckte Tabak als eine wunderbar befreiende Droge, ein Muss in der Geselligkeit.
Heute sind selbst Filme, in denen noch geraucht wird, zu komischen Fossilen geworden. Die in kleinen Gruppen vor den Türen der rauchfreien Lokale bibbernden Raucher fühlen sich vermutlich ähnlich unzeitgemäß revolutionär wie seinerzeit die strikt anti-alkoholischen, aber religionssüchtigen iranischen Islamisten im Teheran der 1970er-Jahre.
Freilich, dass ihr auf Abschaffung westlicher "Dekadenz" ausgehender Rigorismus selbst Suchtcharakter hatte, fiel den Revolutionären nicht auf. Ebendieser unbewusst bleibende Suchtcharakter der Askese selbst wird aber zur Durchsetzung eines hart asketischen Regimes nicht wenig beigetragen haben.
Und auch wenn im heutigen Iran – ähnlich wie in den USA zur Prohibitionszeit – die illegale Schnapsbrennerei und der private Konsum boomen, ist die Errichtung harter, auf schmerzhaften Verzicht gegründeter Regimes selten ein zivilisatorischer Erfolg. Das sollten wir uns zu Herzen nehmen.
Schon die frühe Psychoanalyse von Freud und eben jenem Viktor Frankl wusste, dass ein "Rausch moralischer Askese" ein eindeutiges Warnzeichen für massive kulturelle Regression sein kann.

Kampf gegen Alkohol, Cholesterin und Internetsucht

Wie sich das heute bei uns zeigen könnte? Zum Beispiel so: Nachdem das Nikotin erledigt ist, wird der nächsten "Droge" der Kampf angesagt. Für die eher Konservativen kommen in Frage: Kokain, Cannabis und Sex. Für die eher Alternativen: Fleisch-Burger, Autos und Macht.
Immateriell bekämpfen "Rechte" zusätzlich noch die Wertevergessenheit, und "Linke" den ungerechten und unsensiblen Gebrauch der Sprache. Radikal Aufgeklärte erkennen bereits im Kirchenbesuch einen Opiatmissbrauch, manch frommer Freikirchler dagegen im Besuch von Fitness-Studios eine ungesunde Fixierung auf den eigenen Körper.
Gemeinsam kämpfen sie alle aber immer öfter gegen Alkohol, Cholesterin, Internetsucht und Herzinfarkte.

Krankhafte Kontrollsucht

Zivilisation lebt ganz sicher vom maßvollen Ausbalancieren von Genuss und Zurückhaltung. Wo jedoch Askese zum Exzess wird, da entwickelt sich krankhafte Kontrollsucht – und die Verhältnisse werden nicht friedlicher, sondern gewalttätiger.
Freilich: Was Freud die "unabschließbaren Zwangshandlungen" der monotheistischen Religionen nannte, ist kein Alleinstellungsmerkmal der Religion. Es erscheint überall da, wo Leute sich und anderen den gesunden Wechsel von Spannung und Entspannung nicht mehr zutrauen und nicht mehr gönnen.
Da ziehen dann auch die einander angeblich so feindlichen Gewalten des "Neoliberalismus" und "Islamismus" an einem Strang.

Gesine Palmer, geboren 1960 in Schleswig-Holstein, ist Religionsphilosophin. Sie studierte evangelische Theologie, Judaistik und allgemeine Religionsgeschichte in Lüneburg, Hamburg, Jerusalem und Berlin. 2007 gründete sie in Berlin das "Büro für besondere Texte" und arbeitet seither als Autorin, Trauerrednerin und Beraterin. Ihr wiederkehrendes Thema sind Religion, Psychologie und Ethik – im Kleinklein der menschlichen Beziehungen wie im Großgroß der Politik.

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