Von Schmerz, Tod und vom Leben

01.09.2010
Cesarina Vighys erster Roman ist ein Abschiedsbuch. 1936 in Venedig geboren, entscheidet sie sich kurz nach der Diagnose einer tödlichen Nervenkrankheit zur Niederschrift ihrer Erinnerungen. Stoisch und ohne jede falsche Sentimentalität schildert Vighy, wie die "Amyotrophe Lateralsklerose", kurz ALS, von ihrem Alter Ego Z. Besitz ergreift und die Vergangenheit, sämtliche Beziehungen und die Gegenwart in ein neues Licht taucht.
Selbstverständliche Körperfunktionen wie Gehen, Sprechen und Schlucken werden nach und nach zum Problem – als sich Vighy längst nicht mehr klar artikulieren kann, bleibt ihr noch das Schreiben, das mit einem einzelnen Finger zu bewerkstelligen ist. Die große Diskrepanz zwischen den inneren Kräften der Verfasserin und ihrem dramatischen gesundheitlichen Zustand macht das Buch zu einem eindrucksvollen Zeugnis.

Beobachtungen ihres Befindens, das ein Amselnest im Baum vor ihrem Küchenfenster zu einem Ereignis werden lässt und ihre Wahrnehmungsfähigkeit bis aufs Äußerste schärft, wechseln mit Miniaturen über die Kindheit und Jugend ihrer Eltern in Venedig und Padua.

Vighys Mutter Nives wurde von ihrem Vater eifersüchtig bewacht und bekannte sich gegen große Widerstände der Familie zu ihrem Mann - einem klugen, sanftmütigen, aber zu allem Überfluss verheirateten Rechtsanwalt, der erst nach geraumer Zeit die Scheidung durchsetzen konnte. Die Erzählerin war damals längst geboren.

Die ersten Jahre verbrachte sie mit der alleinerziehenden Mutter in einer Pension in Padua, wo "das meistgeliebte Kinder der Welt" von sämtlichen Gästen verhätschelt wurde. Der Vater war unterdessen im Widerstand aktiv und landete im Gefängnis. Nach dem Krieg lebte die Familie gemeinsam in Venedig; Vighy wuchs heran, versuchte sich als Schauspielerin, studierte Literatur und fiel auf einen alternden Don Giovanni herein, was einen Besuch bei einer zwielichtigen Engelmacherin zur Folge hatte.

Eines Tages entschied sie sich zum Umzug nach Rom, wo sie von nun an leben sollte. Eine lesbische Liebesbeziehung, die Frauenbewegung und Erfahrungen mit der Psychoanalyse standen im Zeichen von 1968, doch schon bald nützte sich die provozierende Geste ab, folgten die Anstellung in der Bibliothek, die Ehe mit einem jüngeren Mann und die Geburt einer Tochter.

Wehmütig liest man die Schilderungen der Caput Mundi in den sechziger Jahren: ein geschichtsträchtiger Ort, der seinen Bewohnern gehörte. Eingelassen in die Rückblenden sind immer wieder kleine philosophische Betrachtungen, Hinweise auf Schriftsteller, Überlegungen zu Versäumnissen, die unweigerlich Teil des Lebens sind. Im letzten Viertel des Zeugnisses steht erneut Vighys Erkrankung im Vordergrund. Wieder beeindruckt der gelassene und humorvolle Blick auf das, was ihr widerfährt.

Mein letzter Sommer lautet der Titel des autobiographischen Romans – es geht um den Reichtum, der im Geschmack einer Speise, in Beobachtungen einer Katze oder in Gesprächen mit ihrem Enkel steckt, und darum, wie man mit jeder Faser am Leben hängt. Cesarina Vighy, am 1. Mai 2010 ihrer Krankheit erlegen, gewann durch die Arbeit an ihrem Debüt noch einmal sämtliche Kräfte zurück. Mit Hilfe ihrer Tochter, Lektorin bei dem römischen Verlag Fazi, bewerkstelligte sie die Korrektur und Drucklegung des Manuskripts. Aus ihrer Email-Korrespondenz entstand ein zweites Buch, der Briefroman Scendo. Buon proseguimento, der zwei Tage vor ihrem Tod erschien.

Den großen Erfolg, den Mein letzter Sommer in Italien hatte, konnte Vighy noch erleben, eingeschlossen in ihren schwächer werdenden Körper. Dass der Geist die Hinfälligkeit bezwingen kann, hatte sie schon bewiesen.

Besprochen von Maike Albath

Cesarina Vighy: Mein letzter Sommer
Roman, aus dem Italienischen übersetzt von Maja Pflug
Hoffmann und Campe, Hamburg 2010
190 Seiten, 17,00 Euro