Von Nürnberg nach Den Haag

Benjamin Ferencz im Gespräch mit Winfried Sträter · 08.06.2010
Der heute 90-jährige Benjamin Ferencz gehörte zu den Chefanklägern bei den Nürnberger Prozessen. Damals sei die Grundlage gelegt worden für eine internationale Strafgerichtsbarkeit, sagt er. Diese käme nun nach und nach in Gang.
Susanne Führer: In diesen Tagen verhandeln die Mitglieder einer Konferenz in Kampala, also der Hauptstadt von Uganda, darüber, ob die Befugnisse des Internationalen Strafgerichtshofs, der seinen ständigen Sitz in Den Haag hat, ausgeweitet werden sollen. Mit dabei in Uganda ist einer der Wegbereiter dieses Internationalen Strafgerichtshofs, der heute 90-jährige Benjamin Ferencz. Der amerikanische Jurist gehörte nach dem Zweiten Weltkrieg zu den Chefanklägern der Nürnberger Prozesse. Mit 27 Jahren war er der Jüngste. 1945 hatte er die befreiten Konzentrationslager gesehen, er sammelte Beweismaterial für die Kriegsverbrechen der Deutschen. Mein Kollege Winfried Sträter hat Benjamin Ferencz vor wenigen Tagen in Berlin getroffen und ihn gefragt, ob damals der Ruf nach Rache nicht stärker gewesen sei als das Verlangen nach Recht, nach juristischer Aufarbeitung also.

Dr. Benjamin Ferencz: Da waren Mengen von Leute ...
Diese Leute, die glichen wandelnden Skeletten. Sie trugen gestreifte Schlafanzüge. Wir wussten damals gar nicht, dass es Konzentrationslager gab, wir kannten das Wort KZ nicht. Wir wussten nur, das mussten irgendwelche Arbeitslager sein. Diese Menschen kamen dann also ins Hauptquartier des Generals Patton, und ich wurde ausgesandt, zunächst in das Lager Buchenwald, dort gab es auch einige Außenlager, und ich konnte mir ein genaues Bild machen von den Umständen.

Es war für mich ganz wichtig, dass ich so rasch wie möglich dorthin gelangte, ehe irgendwelche Zeugnisse oder Hinterlassenschaften zerstört worden wären, entweder von den Häftlingen selbst oder von den SS-Männern, die dort noch waren. Mein erstes Ansinnen war also stets, die Schreibstube mit all den Dokumenten zu sichern. Ich nahm Zeugen oder Menschen fest, die ich befragen konnte. Ich hielt alle diese Einzelheiten fest, und dann ging es bereits weiter ins nächste Lager.

Winfried Sträter: Sie haben mit klarem juristischen Auftrag dieses Grauen gesehen. Auf der anderen Seite, was für Gefühle hat man in einer solchen Situation? Hat man nicht das Verlangen nach Rache? Es gibt ja die Geschichte von Stalin, der 1943 bei der Konferenz in Teheran zu Churchill und Roosevelt gesagt haben soll: Wir erschießen nach dem Krieg 50.000 Leute und dann haben wir das Problem gelöst. War das so klar, dass diese Verbrechen juristisch aufgearbeitet werden, auch bei den Amerikanern?

Ferencz: Meine Ausbildung als Rechtsanwalt – und ich möchte sagen auch als Mensch – hat mich gelehrt, hier eine Art weißen Bildschirm aufzuspannen, wenn ich meine Arbeit machte. Wie ein Arzt, der auf dem Schlachtfeld die Verwundeten versorgen muss, musste ich meine Gefühle beiseitelegen. Ich spürte keinerlei Gefühle von Rache. Jahre später, nach den Nürnberger Prozessen, habe ich übrigens erfahren, dass meine Großmutter in Auschwitz ermordet worden war, aber damals empfand ich keine Rachegefühle oder Empörung darüber, dass Deutschland sich angeblich gegen einen bolschewistischen Angriff zur Wehr setzen musste und deswegen kleine Kinder und betagte alte Mütterchen töten musste.

Nein, damals ging es mir darum, möglichst schnell rein-, möglichst schnell rauszukommen aus diesen Lagern, denn die Lager waren ja angefüllt mit Üblem, mit Krankheiten, Kot lag herum, Erbrochenes, die Läuse, die Ratten sprangen überall herum. Für mich war also das Wichtigste, möglichst schnell rein- und möglichst schnell rauszukommen. Die Gefühle mussten beiseite stehen.

Sträter: Die juristische Aufarbeitung beginnt mit dem internationalen Kriegsverbrechertribunal oder Militärtribunal 1945/46, und dem folgen zwölf Nachfolgeprozesse unter der Regie der Amerikaner. 1948 werden Sie Chefankläger eines dieser Nachfolgeprozesse, des sogenannten Einsatzgruppenprozesses Fall 9, und man sagt ja, es ist gewissermaßen der größte Mordprozess der Geschichte gewesen. Auf welcher juristischen Grundlage konnten Sie überhaupt Anklage führen, wie unsicher war die Grundlage Ihres Verfahrens?

Ferencz: So hat Robert Jackson, ein hoch geschätzter amerikanischer Jurist, der damals auch Hauptzuständiger war für die Konstruktion des Militärgerichtshofes, es immer wieder gesagt: Was wir heute als Recht anerkennen, wird uns in Zukunft als Verpflichtung binden. Und er hat es immer wieder rausgestellt, dass derartige Verfahren gerecht und fair sein müssen, und zwar gleichermaßen gegenüber allen Nationen. Sein Ansehen war damals so groß, dass diese seine Ansicht international damals als eine Art Richtschnur gepriesen wurde. Und diese Richtschnur galt sowohl bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen wie auch bei den nachfolgenden Prozessen, bei den damaligen wie auch bei den neuen.

Nach meinem besten Dafürhalten und nach meinem wohlerwogenen Urteil kann ich sagen, alle Nürnberger Prozesse sind fair nach den Regeln der üblichen Gerichtsbarkeit abgelaufen. Das Ziel dieser Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse war es überhaupt nicht, die Deutschen zu bestrafen, das wäre auch anders möglich gewesen, dann hätte man ja die Deutschen alle erschießen können. Nein, Ziel war es, das Recht zu einem Werkzeug dazu zu machen, dass die Welt gerechter und besser würde.

Sträter: Ein Rundfunkkommentator hat damals gesagt: Nürnberg ist der Beginn eines neuen Rechtsdenkens und Rechtsempfindens in der Welt. Über lange Jahre und Jahrzehnte schien es so, als ob Nürnberg nur eine Episode des internationalen Rechts gewesen sei. Es gibt seit 2002, 2003 den Internationalen Strafgerichtshof, gewissermaßen Nürnberg in Permanenz. Ist das die Erfüllung Ihres juristischen Traums?

Ferencz: Teilweise nur. Mein Traum ist eine friedliche Welt. Aber ... Wir haben ja jetzt diesen Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag, aber es stellte sich heraus, als im Jahr 1998 die Verfahrensordnung für diesen Strafgerichtshof vereinbart werden sollte, dass es nicht möglich war, den Tatbestand Aggression dort abzuhandeln. Es stellte sich heraus, dass, ja, Aggression oder ein Angriffskrieg als ein Verbrechen definiert wurde, dass aber der Strafgerichtshof dafür nicht die Mittel erhalten sollte, um das wirklich abzuhandeln. Und das ist nun wirklich lächerlich.

Und was mich noch trauriger stimmt, ist eben die Behauptung, es sei nicht möglich, Aggression zu definieren. Und das stimmt einfach nicht. Aggression oder Angriffskrieg ist wieder und wieder behandelt und definiert worden. Dann wurde gesagt, ja, der Sicherheitsrat sollte eben die oberste Zuständigkeit über die Einleitung eines Verfahrens haben, und da erhebt sich dann natürlich immer Widerspruch und Widerstand seitens jener Nationen, die nicht in diesem erlauchten Gremium vertreten sind.

Aber dass eben Aggression nicht definiert werden könne, das stimmt einfach nicht, das Gegenteil ist richtig. Wir müssen einen Zustand erreichen, wo Aggression oder Angriffskrieg als ein strafbares Verbrechen definiert wird. Nicht nur als etwas Verwerfliches, das dann nicht verhandelt werden kann, nein, es muss wirklich klare Verfahrensregeln dafür geben, und dafür muss der Weg gegangen werden. Wir haben schon Fortschritte gemacht, wir haben ganz erhebliche Fortschritte erzielt.

Als ich meine Tätigkeit anfing, gab es noch kein internationales Strafrecht, es gab noch kein humanitäres Recht und es gab noch keinen Internationalen Strafgerichtshof. Heute dagegen haben wir immerhin die Verbrechen in Jugoslawien, in Ruanda, in Kambodscha und anderen Ländern immerhin schon zum Gegenstand von Gerichtsverhandlungen gemacht. Das heißt, nach und nach kommt dieses internationale Strafgerichtswesen in Gang.

Sträter: Sie sind amerikanischer Staatsbürger. Die Vision einer, sagen wir, weltweit geltenden Rechtsstaatlichkeit ist eine amerikanische Vision, die Amerikaner waren immer Motoren dieser Entwicklung und auf der anderen Seite die großen Blockierer. Der Internationale Gerichtshof brauchte die Ratifizierungen der einzelnen Staaten, die Amerikaner leisten ihre Unterschrift und ziehen die Unterschrift dann wieder zurück. Ändert sich auch unter dem jetzigen Präsidenten Obama das Verhältnis der USA zum Internationalen Strafgerichtshof?

Ferencz: Man darf eigentlich nicht von den Amerikanern sprechen. Amerika ist natürlich eine großartige Demokratie, wie ich gesagt habe, aber es gibt einige Amerikaner, die meine Grundüberzeugung teilen und andere eben diese nicht teilen. Politisch hat Amerika heute natürlich andere Prioritäten auf der Tagesordnung, und ich meine durchaus, es wird noch einige Zeit dauern, ehe dieses Thema der internationalen Strafgerichtsbarkeit wirklich zu Ende gebracht ist.

Aber dieses Grundgefühl, wonach es eine internationale Strafgerichtsbarkeit geben müsse, das greift Raum. Ich glaube, wir haben in diesem Sinne bereits einiges erreicht. Es könnte bereits ja zum Beispiel in einem Monat schon so weit sein, dass ein weiterer Schritt getan wird, dass Aggression oder Angriffskriege nicht nur wie in Nürnberg und Rom als strafbare Verbrechen angesehen werden, sondern dass auch durchgesetzt wird, dass sie vor dem Internationalen Strafgerichtshof tatsächlich verhandelt werden können.

Führer: Benjamin Ferencz im Gespräch mit meinem Kollegen Winfried Sträter, und der Dolmetscher war Johannes Hampel.
Internationaler Gerichtshof in Den Haag
Internationaler Gerichtshof in Den Haag© AP