Von Menschhändlern, Rotgardisten und Klomännern

Auf einem Markt in der chinesischen Metropole Chongqing
Auf einem Markt in der chinesischen Metropole Chongqing © Karin Willen
02.11.2009
Liao Yiwu hält die psychischen und physischen Verletzungen fest, die die Chinesen einander im 20. Jahrhundert zugefügt haben. In 29 Interviews mit Menschen vom Rande der Gesellschaft, die Liao in einem Buch zusammengefasst hat, kommen sie zum Vorschein.
"Nach westlichen Standards leidet fast jeder Chinese an irgendeiner psychischen Krankheit", schrieb der chinesische Autor Liao Yiwu in seiner Dankesrede für einen australischen Literaturpreis. Der Preis sollte ihm diesen Sommer verliehen werden, doch konnte er ihn nicht entgegennehmen, da er von den chinesischen Behörden an der Ausreise gehindert wurde.

Schon dass Liao Yiwu zufolge in China fast jeder psychisch krank ist, ist eine Provokation für sich. Schließlich ist allein das Wohl der Massen Ziel und Legitimation eines kommunistischen Staates. Tatsächlich aber hat dieser Staat seinen Bürgern in den vergangenen 60 Jahren so viel Schlimmes angetan, dass ein großer Teil der chinesischen Bevölkerung traumatisiert zurückgeblieben ist.

Diesem "Bodensatz der chinesischen Gesellschaft", wie Liao Yiwu es selbst nennt, nähert er sich in Gesprächen. Über 300 Gespräche mit einfachen Leuten hat Liao Yiwu in den letzten zwei Jahrzehnten geführt und aufgeschrieben. 29 dieser Interviews sind nun unter dem Titel "Fräulein Hallo und der Bauernkaiser" erstmals auf Deutsch erschienen.

Darin unterhält sich Liao Yiwu mit Menschen vom Rand der Gesellschaft, mit Übriggebliebenen, mit solchen, die die Geschichte gefressen und wieder ausgeschieden hat. Er spricht mit einem Klomann und einem Rechtsabweichler, mit einem Menschenhändler und einem Arbeitsgruppenleiter, mit einem alten Rotgardisten und einer Falun-Gong-Anhängerin.

Der Klomann erzählt, wie früher noch alle zur Gemeinschaftstoilette am Ende der Straße gingen und welche Sprüche sie dort an die Klowände kritzelten. Der Menschenhändler erklärt, wie er über Jahre Frauen aus Sichuan nach Nordchina verkauft hat. Der Arbeitsgruppenleiter erinnert sich an die schlimme Hungersnot Anfang der 60er-Jahre, als sogar kleine Mädchen in den Kochtopf wanderten, während der alte Rotgardist vor allem an die schönste Zeit in seinem Leben denkt, die Kulturrevolution, und daran, wie sehr er seine Macht über Andere genossen hat. Die Falun-Gong-Anhängerin schließlich erzählt vom Meditieren und davon, wie sie von der Polizei zusammengeschlagen wurde.

Die chinesischen Behörden meinen, Liao verletze mit diesen Gesprächen die Würde des chinesischen Volkes. Deshalb dürfen die Interviews in China nicht erscheinen. In der Tat aber hat selten jemand höflicher und ehrlicher mit seinen Interviewpartnern gesprochen als Liao Yiwu. Er nähert sich ihnen mit persönlicher Anteilnahme und echter Neugier, nie aber belehrend. Kein Wunder also, dass der Klomann meint, es wehe "ein frischer Wind durch einen hindurch", wenn man mit Liao Yiwu spreche.

Doch auch beim Lesen verspürt man diesen frischen Wind. Denn in keiner anderen Publikation in diesem Herbst kommt man Chinesen näher als in den Gesprächen des völlig undogmatischen Chronisten Liao Yiwu. Durch seine Interviews schreibt er eine Geschichte Chinas "von unten" und hält voller Mitgefühl die psychischen und physischen Verletzungen fest, die die Chinesen einander im 20. Jahrhundert zugefügt haben.

Besprochen von Katharina Borchardt

Liao Yiwu: Fräulein Hallo und der Bauernkaiser. Chinas Gesellschaft von unten
Aus dem Chinesischen von Hans Peter Hoffmann und Brigitte Höhenrieder
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2009
539 Seiten, 22,95 Euro