Von hohem Ross und deutschem Dünkel

Von Ulrich Fischer · 10.06.2011
Bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen ist "Alles Opfer! oder Grenzenlose Heiterkeit" des jungen Autors Dirk Laucke uraufgeführt worden. Das Stück hat allerdings mehr Potential, als die Inszenierung von David Benjamin Brückel auf die Bühne brachte.
Spitzelei, die deutsche Lust an der Denunziation und Dünkel sind Hauptthemen in Dirk Lauckes neuem Stück "Alles Opfer! oder Grenzenlose Heiterkeit": Auf einer Vergnügungsreise nach Schlesien stürzt ein deutscher Reisebus eine Böschung hinunter – nur fünf überleben.

Ein junger Journalist, der sich als kritisch profilieren möchte, nutzt die Zeit, Interviews mit seinen Schicksalsgenossen zu führen. Der Reiseunternehmer, einst in der DDR ein beliebter Fernsehunterhalter, outet sich als ehemaliger Stasispitzel; eine alte Dame ist Witwe eines begeisterten Nazis und beide sind Meister der Ausreden – die Umstände waren Schuld ("Alles Opfer!"), es war alles gar nicht so schlimm und die Verantwortung für ihre Leiden tragen selbstredend die Opfer, hätten sie die Schnauze gehalten, wären sie nicht aufgefallen ... Keine Einsicht, nirgends.

Bis dahin scheint das Stück wenig originell, nur die Gestalten sind interessant – aber das Ende trägt die Last. Laucke macht deutlich, dass das inquisitorische Fragen des Journalisten nicht besser ist als die Spitzelei der alten Nazis und Stasis. Er setzt sich aufs allzu hohe Ross. So wie die Alten sungen, so zwitschern auch die Jungen.

Lauckes Ansichten sind anfechtbar, aber der junge Stückeschreiber macht plausibel, dass das An-den-Pranger-Stellen die Selbstverteidigung "Ich-kann-nichts-dafür" geradezu provoziert. Das Stück plädiert für mehr Einfühlsamkeit, Verständnis – und gegen die übliche Selbstgerechtigkeit, es ist die theatralische Umsetzung einer Mahnung des ehemaligen Bundespräsidenten Gustav Heinemann: "Wer auf jemandem mit dem Finger zeigt, sollte nicht vergessen, dass drei Finger auf ihn zurückweisen."

Ja, es ist mehr. Laucke nähert sich einer traurigen alten Weisheit: Die Intelligenz ist opportunistisch und korrupt. Für den kleinsten Vorteil ist sie bereit, hehre moralische Ideale zu opfern. Sie ist käuflicher als eine Straßenhure. Es gibt allerdings ein Kunstwerk, dass diesen Zusammenhang sehr viel besser auf den Punkt bringt, analysiert und komisch anprangert: Klaus Manns unsterblichen Roman "Mephisto".

Es übersteigt die künstlerischen Mittel des jungen Regisseurs David Benjamin Brückel, diesen komplexen Befund szenisch herauszupräparieren. Vor allem vernachlässigte er die humorvoll-unterhaltsame Dimension der tragischen Farce. Die Uraufführung kam als Kooperation der Ruhrfestspiele mit dem Staatsschauspiel Dresden zustande. Das Ensemble aus der Elbmetropole wirkte stellenweise ratlos und spielte hölzern. Das Stück hat mehr Potential, als die Uraufführung freisetzte.

Es war absehbar, dass das Stück, das nicht frei von Anfängerfehlern den Dialog und einige Monologe überfrachtet, schwer zu inszenieren sein würde. Dresdens Staatsintendant Wilfried Schulz, ein erfahrener Theatermann, hätte nicht einen jungen Regisseur mit der Uraufführung beauftragen sollen, sondern einen erfahreneren Spielleiter, der Anfängerfehler Lauckes hätte ausbügeln können.

Die Ruhrfestspiele präsentierten "Alles Opfer!" im Rahmen eines eigenen kleinen Uraufführungsfestivals. Trotz manch wenig inspirierter Inszenierung erwiesen sich die Stücke selbst als präsentabel, oft interessant, meistens politisch und fast immer gesellschaftskritisch grundiert – und unterhaltsam. Die Dramatiker waren jedes Mal den Regisseuren überlegen. Festivalleiter Frank Hoffmann hat richtig entschieden, Stückeschreibern und bislang noch nie gespielten Texten ein Podium in Recklinghausen zu bieten, auch wenn oft allzu viele Plätze im Theaterzelt frei blieben. Zukunftsorientiertes Theater sollte/darf, ja muss in der Gegenwart auch Risiken eingehen.

Alles Opfer! oder Grenzenlose Heiterkeit
Politisches Sozialdrama von Dirk Laucke
Regie: David Benjamin Brückel
Ruhrfestspiele in Recklinghausen in Kooperation mit dem Staatsschauspiel Dresden
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