Von der Liebe und der Suche

13.05.2011
Man nannte ihn einen "Klassiker zu Lebzeiten": Am 15. Mai würde der Schriftsteller Max Frisch seinen 100. Geburtstag feiern. Aus diesem Anlass sind zwei neue Hörbücher erschienen.
"Die Frage drängt sich auf, ob und inwieweit die deutsche Intelligenz willens und imstande ist, den eigenen Menschenschlag zu lieben, nicht zu lobpreisen oder zu verpönen, sondern zu lieben. Gemeint ist natürlich nicht, wenn wir von Menschenschlag sprechen, das Volk der Dichter und Denker, sondern das deutsche Volk. Haben die deutschen Schriftsteller es lieb?"

Max Frisch liebte die Provokation. Seine Rede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises – Thema: "Deutsche Dichter als Emigranten in der Schweiz"- platzte 1958 in die westdeutsche Intellektuellenszene mit Donnerhall. Während man inmitten des Kalten Krieges mit der Aufarbeitung der Nazi-Zeit beschäftigt war, wagte noch keiner der aufgeklärten Geister daran zu denken, dass man sich der eigenen Geschichte, gar der eigenen Nation, je anders als mit Vorbehalt nähern dürfe. Frisch sah das zwar nicht anders, doch beunruhigende Fragen zu stellen hielt er für die vornehmste Pflicht eines Schriftstellers.

"Das Bildnis, das sich einer von sich selber macht, muss nicht unbedingt ein größenwahnsinniges sein, er kann auch daran kaputtgehen, dass er sich etwas nicht zutraut. Sie werden dieses Bild, das Sie sich von sich selber machen, nicht los. Da muss eine Erschütterung stattfinden, eine Katharsis, dass einer wieder in den Zustand kommt, der furchtbar ist und fruchtbar: Er weiß nicht, wer er ist."

Zeit seines Lebens hat Max Frisch sich eingemischt. Viele Reden besitzen heute dokumentarischen Charakter, diejenige etwa, mit der er sich unter dem Eindruck des Mauerfalls im Dezember 1989 für den Heinrich-Heine-Preis bedankte. Von bleibender Aussagekraft aber sind seine Selbstauskünfte, über das Schreiben, über seine Arbeitsweise, über die Obsession, mit der er das große Lebensthema von Identitätsverlust und Selbstfindung variierte.

"Fast alle sogenannten Helden in meinen Büchern werden in eine Krise geführt, die eine produktive sein müsste, dass sie an einem Punkt in ihrem Leben nicht wissen, wer sie sind. Das ist der Augenblick, wo einer wieder offen werden kann für die Möglichkeiten, die vorhanden sind. Es sind also nicht traurige Helden in dem Sinn, dass sie nicht so flott sind wie die Umgebung – die ist von mir aus gesehen durchaus nicht flott, sondern nur versteinert in ihrer Selbstinterpretation. Und die Scheiternden sind diejenigen, die einen Schritt weiterkommen als die anderen, die sich für die Gesunden, die Intakten halten."
Ein solcher Scheiternder ist Anatol Stiller. Er behauptet, ein anderer zu sein, schon im legendär gewordenen, allerersten Satz des Romans. Samuel Weiss führt den Helden, entgegen aller Erwartung, nicht mit einem Paukenschlag ein, er gibt ihm die Stimme eines Verschwörers.

"Ich bin nicht Stiller! – Tag für Tag, seit meiner Einlieferung in dieses Gefängnis… sage ich es, schwöre ich es und fordere Whiskey, ansonst ich jede weitere Aussage verweigere. Denn ohne Whiskey, ich hab’s ja erfahren, bin ich nicht ich selbst, sondern neige dazu, allen möglichen guten Einflüssen zu erliegen und eine Rolle zu spielen, die ihnen so passen möchte, aber nichts mit mir zu tun hat."

Der Mann, der an der Schweizer Grenze verhaftet wird, will nicht derjenige sein, von dem alle glauben, dass er es sei: Ein mäßig erfolgreicher Maler, der mit der Tänzerin Julika verheiratet und sechs Jahre zuvor aus seinem Leben geflohen war. Sie hielt ihn einst für einen einfühlsamen Menschen. Doch schon kurz nach der Eheschließung muss sie erkennen, dass sie sich in ihm getäuscht hat.

"Reden wir besser nicht von Liebe, nicht in unserem Falle, auch nicht von Treue – auch du hättest mich längst verlassen, an Gelegenheit fehlte es dir nie, bloß an Zuversicht, dass du einen wirklichen Mann würdest halten können. Reden wir doch offen! Unsere Treue war die Angst vor der Niederlage mit jedem anderen Partner. - Ich denke, Julika, wir sehen einander zum letzten Mal."
Für das Hörspiel wurde der Roman um ganze Motivstränge gekürzt, um Stillers Erlebnisse in Amerika etwa oder die parabelhaften Binnenerzählungen über Männer auf der Flucht vor klaren Entscheidungen wie die von Isidor, dem Fremdenlegionär. Im Zentrum steht die Ehegeschichte. Auch die Tagebuchform des Romans bleibt erhalten, freilich vielfach in lebendig gestaltete Dialoge übersetzt. Das gibt den Sprechern, allen voran Stiller-Darsteller Samuel Weiss Gelegenheit, stimmlich alle Register zu ziehen, vom kühlen Räsonnement bis zum theatralischen Auftritt.
"Ihr Hass gegen die Schweiz ist krankhaft!" – "Wieso Hass?" – " Ihr Hass gegen die Schweiz beweist mir noch lange nicht, dass Sie kein Schweizer sind. Im Gegenteil, gerade damit verraten Sie sich!"

Leitmotivisch durchziehen elektronische Klänge das Geschehen. Zugrattern, schlurfende Schritte, das Rasseln von Schlüsseln im Gefängnis: Geräusche, sparsam eingesetzt, bilden szenische Zäsuren und eröffnen wie akustische Kulissen immer wieder neue Räume. Nur manchmal, wenn Kuhglockengebimmel im Dauerton eine Bergwanderung untermalt, drängen sie sich allzu plakativ in den Vordergrund. Gleichwohl, das akustische Spiel um die existentialistische Frage - Wer bin ich und wenn ja, wie viele ich? – bietet klassischen Hörgenuss.

Rezensiert von Edelgard Abenstein

Max Frisch: "Stiller", 3 CDs
Hörspiel und mit Samuel Weiss u.a.
Regie: Norbert Schaeffer
Produktion: NDR Kultur 2011
Hörverlag München 2011, 19,95 Euro

Ingo Starz (Hrsg.): "Max Frisch - Nicht weise werden, zornig bleiben. Ein Porträt in Originalaufnahmen", 2 CDs
Hörverlag München 2011, 19,95 Euro