Von Burkhard Müller-Ullrich

16.08.2012
Das umstrittene Punktesystem der Bologna-Reform, die französische Interpretation der Avernerschlacht und das Feuilleton-Spektakel um Schirrmacher, Steinfeld und andere beschäftigen heute die Feuilletons der großen Tagezeitungen.
Zu den zahlreichen Schrecklichkeiten des universitären Lebens von heute gehört ECTS. Klingt wie eine Krankheit, steht aber für European Credit Transfer and Accumulation System. Dieses System ist das Herzstück der sogenannten Bologna-Reform, die alle Bachelor- und Masterstudiengänge international vergleichbar und kompatibel machen sollte. Das Ziel war, die Mobilität der Studenten zu erhöhen, und zwar durch Leistungspunkte, die gespeichert und verrechnet werden können.

"Aber genau dieses vermeintliche Transfersystem hat sich letztlich als das Mobilitätshindernis schlechthin herausgestellt",

schreibt der Bielefelder Soziologieprofessor Stefan Kühl in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG und erläutert:

"Mal hat eine im Ausland belegte Veranstaltung einen Leistungspunkt zu wenig; ein andermal entspricht die "Modul"-Beschreibung an der ausländischen Uni nicht genau derjenigen an der Heimatuniversität."

Auch ist die Vergleichbarkeit als solche reine Fiktion: In Österreich müssen Studis für ihren Bachelor glatt 900 Stunden weniger arbeiten als in Deutschland oder in der Schweiz, rechnet Kühl in dem Artikel vor und stellt die Frage aller Fragen:

"Weswegen wird das Punktesystem, das an den Hochschulen zu kafkaesken Bürokratisierungserscheinungen geführt hat, nicht einfach eingestellt?"

Die Antwort läßt sich kurz zusammenfassen: weil sich kein Politiker traut. Bologna steht für den Traum eines akademischen Gesamteuropas, und trotz aller berechtigten Kritik gibt es keinen Weg zurück. Alternativlos. Die Organisationssoziologie kennt für eine solche Situation den Begriff "lock in". Sollten wir uns merken, ist vielleicht für die Beschreibung des ganzen EU-Dramas brauchbar.

Lange vor der EU gab es das Römische Reich von Gaius Julius Cäsar, dessen Anfang und Ende mit legendären Schlachten verbunden werden: mit der Varusschlacht im Teutoburger Wald und 67 Jahre vorher mit der Bezwingung des Avernerfürsten Vercingetorix bei Alesia. Während die genaue Örtlichkeit der Varusschlacht noch immer nicht restlos geklärt ist, steht die Topographie von Alesia zweifelsfrei fest, erklärt Bertold Seewald in der WELT: Es ist der Ort Alise-Sainte-Reine in Burgund. Doch während in Kalkriese bei Osnabrück seit 2002 ein spektakuläres Museum an die Varusschlacht erinnert, zieht Frankreich jetzt erst mit einem ähnlichen Projekt nach. Im Frühjahr wurde dort ein "Centre d’interprétation" eingeweiht, und Seewald erklärt, wie schon Napoleon III. die Geschichte vorinterpretierte: Die französische Kultur (so schrieb der Kaiser) verdanke sich dem Triumph der römischen Armee - und wörtlich:

"Deshalb sind wir mehr die Abkömmlinge der Sieger als die der Besiegten."

Kommentar des WELT-Autors:

"Nationale Mythen haben mit der Geschichte wenig zu tun, aber sie können selbst sehr geschichtsmächtig werden."

Jetzt geht diese Presseschau schon fast drei Minuten – und immer noch kein Wort über das irrste Feuilletonspektakel dieser Woche, die Voodoo-mäßige Ermordung Frank "FAZ" Schirrmachers durch Thomas "SZ" Steinfeld per Schwedenkrimi. Die WELT, die den Scoop dieser Story hatte, kann seit Dienstag nicht ohne tägliche Fortsetzungslieferung erscheinen. Heute ist es Jan Klüver, der per Überschrift den Schlüssel zum Roman verspricht und sich dann von Hemingways "Fiesta" über Joe Kleins "Primary Colors" bis zu Laura Weisbergers "Der Teufel trägt Prada" mit Schlüsselromanen beschäftigt.

Der Schlüsselroman – schreibt Jan Klüver –

"ist ein paradoxes Genre, das einen Identitätseisberg auftürmt, um dann davon nur ein Achtel zu zeigen. Daß der Eisberg schmilzt, ist das große Risiko des Autors und zugleich sein kaum verhohlener Wunsch. Oft soll eine Katharsis bewirkt werden, irgendetwas Großes soll sich ändern."

Siehe Shakespeares Hamlet, wo ja, um den mörderischen Onkel zu entlarven, ein anonymes Stück im Stück aufgeführt wird. Doch das ist ein raffiniertes Zeichenspiel innerhalb der Fiktion. Bei Steinfeld sieht es anders aus.

Seine Biographie – so lauten die letzten Sätze des Artikels –

"hält genug Motive für den symbolischen Mord am Feuilleton-König bereit, dessen Platz er zu gern selbst einnähme. Nur Schirrmacher tut so, als sei er nicht der tote König, sondern Shakespeare, als ginge ihn das Ganze gar nichts an. Er scheint auf dem Tanker "FAZ" an der Reling zu stehen und freundlich in die Ferne zu winken, wo Steinfeld auf seinem Eisberg sitzt, der in der Sonne schmilzt."