Von Arno Orzessek

29.06.2013
Die "Welt" freut sich über das Schloss Kassel-Wilhelmshöhe, das die Unesco zum Weltkulturerbe ernennt, die "Zeit" freut sich noch mehr über das Kulturgut – den Schlager und der "Tagesspiegel" macht die schöne Stimmung mit einem Artikel über den Überwachungswahnsinn der Geheimdienste wieder kaputt.
Der Verfasstheit der Welt geschuldet, haben sich die Feuilletons auch in der vergangenen Woche mit unerfreulichen Dingen befasst.

Zunächst aber zu den erfreulichen.

In der Tageszeitung DIE WELT jubelte Dankwart Guratzsch:

"Wieder ein Schloss! Und wieder ‚Natur‘. Mit der Erhebung von Kassel-Wilhelmshöhe zum Weltkulturerbe der Unesco zeichnet die Weltorganisation zum wiederholten Mal eine Besonderheit Deutschlands aus, die andere Völker heute offenbar viel mehr als die Deutschen selbst als ‚welteinmalig‘ empfinden: den gestaltenden Umgang mit Natur und Landschaft über Jahrhunderte hinweg."

So Dankwart Guratzsch, aus dessen schönem Vornamen man die Berufsbezeichnung Dank-Wart herauslesen könnte. Schon klar, es gibt diesen Beruf nicht, anders als den des Tankwarts. Aber wäre es nicht prima, wenn es ihn gäbe - den Dank-Wart?

Voll Lob und Dank zeigte sich auch der Schriftsteller Wilhelm Genazino, der in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG dem Literarischen Colloquium Berlin zum 50. Geburtstag gratulierte.

"Die Geschäftsführung hält sich stets im Hintergrund. […] Selbstverständlich gibt es keinerlei Druck auf die eingeladenen Schriftsteller. Wer Pech hat und nicht viel zustande bringt, wird nicht geächtet. Man weiß hier, was eine Schreibkrise ist, und verhält sich diskret."

Die Wochenzeitung DIE ZEIT überschrieb ihren Feuilleton-Aufmacher:

"Verdammt, ich lieb‘ ihn."

Gemeint war der deutsche Schlager, dessen Olympier DIE ZEIT groß ins Bild setzte: Andrea Berg, DJ Oetzi, Beatrice Egli, Roberto Blanco, Die Wildecker Herzbuben und so weiter.

"Es ist ein globales Verständnis von Unterhaltungsgewerbe, in das das Stiefkind von gestern gerade eingeht. Bestes Beispiel: Helene Fischer. Mit Opas Schlager hat sie bloß noch die Sprache gemeinsam, ihre Dramatik bezieht sie von Céline Dion, ihren Schmelz von Barbara Streisand, ihre Inszenierung ist reinstes Las Vegas, und wem das nicht genug ist, der erhält ein Queen-Medley obendrauf","

begeisterte sich der ZEIT-Autor Thomas Gross.

Schließen wir die Rubrik Lob und Dank, kommen wir zum Unerfreulichen: dem Überwachungswahnsinn der amerikanischen National Security Agency NSA und des britischen Geheimdienstes GCHQ.

Wobei es auch bei diesem Komplex Lob gab… Nämlich für Whistleblower Edward Snowden, den Jan Schulz Ojala im Berliner TAGESSPIEGEL als Helden unserer Zeit feierte:

""Snowden […] hat […] durch seine unmissverständlichen Aussagen der Weltgemeinschaft einen beispiellosen Bewusstseinsschub verpasst. Indem er unwidersprochen die Geheimdienste Amerikas und Englands der elektronisch grenzenlosen Überwachung anklagt, reduziert er nichts Geringeres als den globalen Begriffsunterschied zwischen Demokratie und Diktatur."

In der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG attackierte die Harvard-Ökonomin Shoshanna Zuboff Facebook und Google:

"Fest steht offenbar, dass keines der Unternehmen sich Anfragen der NSA widersetzt hat. Und sie haben auch nicht beschlossen, gemeinsam zu kämpfen oder die Milliarden Nutzer über Praktiken zu informieren, die einige für illegal halten. Diesen Unternehmen gehört das Internet! Was hätten sie mit ihrer vereinten Macht ausrichten können!"

Ebenfalls in der FAZ forderte Georg Mascolo:

"Die demokratischen Regierungen müssen ihren Geheimdiensten das Recht zum grenzenlosen Lauschangriff entziehen. Denn schon heute kann kaum ein Staat gegen die Überwachung seiner Bürger protestieren, weil er mit den Bürgern anderer Staaten doch ebenso verfährt. In Deutschland hat das Post- und Fernmeldegeheimnis, immerhin ein Recht mit Verfassungsrang, faktisch aufgehört zu existieren."

Noch einmal kurz zurück zu Amerika, dem Reich der Unfreiheit.

Zum 50. Jahrestag des Berlin-Besuchs von John F. Kennedy veröffentlichte die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG eine Rezension von Alan Poseners neuer Kennedy-Biographie.

Darin heißt es: "‘Hinter der glanzvollen Fassade verbergen sich nackte Machtausübung, Intrige, Lüge und sexueller Betrug.‘"

SZ-Rezensent Bernd Greiner fasste zusammen:

"Im Kern […] war und blieb Kennedy ein instinktiver Konservativer […]. Dass er einer Preisgabe demokratischer Rechte, einem ‚freiwilligen Totalitarismus‘ gar, das Wort redete, mag auf viele seiner Bewunderer befremdlich wirken; zu seiner Zeit setzte sich Kennedy damit an die Spitze jener, denen zwecks Immunisierung gegen reale oder imaginierte Feinde jedes Mittel Recht war."

Früher durften sich USA-Kritiker anhören, sie sollten in die Sowjetunion auswandern. Die ist nun schon länger dahin – aber Putins Russland wäre auch keine Alternative.

Im TAGESSPIEGEL wetterte der russische Schriftsteller Michail Schischkin:

"Die Grenzen sind offen, weil das Regime keine Bevölkerung braucht, die Erdöl- und Gas-Pipelines reichen ihm vollkommen. Eine kriminelle Bande hat die Macht im Lande usurpiert, pumpt die Bodenreichtümer in den Westen. Wozu mit der Bevölkerung die Einkünfte teilen? Das Geld wird auch im Westen investiert, in Paläste an der Cote d’Azur und in Fußballklubs […]. Im Lande wird nichts produziert, das meiste Geld wird von Beamten gestohlen." –

"Apokalypse, Fensterplatz" hieß in der SZ nicht etwa die Arbeitsplatzbeschreibung eines zeitgenössischen Journalisten – sondern Thomas Kniebes Besprechung von "World War Z", dem Zombie-Film von Marc Forster.

Beim Zuschauen kam Kniebe eine anthropologische Erleuchtung:

"Die Zombies, da braucht sich keiner was vorzumachen – das sind immer noch wir."

Wir sind am Ende, wollen im ruhigen Nachspann aber an Henning Ritter erinnern, den Intellektuellen und Publizisten, der in der vergangenen Woche verstorben ist.

"Er war ein Entdecker geistiger Kontinente"," schrieb Wolf Lepenies in der WELT über seinen Wegbegleiter Ritter.

Dem Entdecker Henning Ritter zum Gedenken zitieren wir Nietzsches Gedicht "Nach neuen Meeren" aus der Frankfurter Anthologie der FAZ:

""Dorthin – will ich; und ich traue
Mir fortan und meinem Griff.
Offen liegt das Meer, in’s Blaue
Treibt mein Genueser Schiff.

Alles glänzt mir neu und neuer,
Mittag schläft auf Raum und Zeit -:
Nur dein Auge – ungeheuer
Blickt mich’s an, Unendlichkeit!"