Von Arno Orzessek

12.06.2010
Es war die Woche, an deren Anfang die Feuilletons auf die Verleihung der Börne-Ehrenmedaille an Marcel Reich-Ranicki zurückblickten, die Woche, in deren Verlauf Joachim Gauck zum virtuellen Feuilleton-Bundespräsidenten avancierte und David Grossman zum realen Friedens-Preisträger, die Woche auch, gegen deren Ende der Maler Sigmar Polke starb.
Es war die Woche, an deren Anfang die Feuilletons auf die Verleihung der Börne-Ehrenmedaille an Marcel Reich-Ranicki zurückblickten, die Woche, in deren Verlauf Joachim Gauck zum virtuellen Feuilleton-Bundespräsidenten avancierte und David Grossman zum realen Friedens-Preisträger, die Woche auch, gegen deren Ende der Maler Sigmar Polke starb.

Männer, Männer, Männer also... standen einmal mehr im Mittelpunkt. Wir aber beginnen mit der Frau der Woche, jener Helena, die Birgit Minichmayr in der Helena-Inszenierung von Luc Bondy auf der Grundlage einer Euripides-Übersetzung Peter Handkes anlässlich der Wiener Festwochen verkörperte.

In der FRANKFURTER RUNDSCHAU bekundete Peter Michalzik kannibalischen Sprach-Appetit auf die Schöne:

"Überwältigend ist Birgit Minichmayr als Helena. In einer modernen, raffiniert geschnittenen, weißen Griechen-Toga, die bei jeder flüchtigen Bewegung mehr ent- als verhüllt, werden die Worte bei ihr so sehr Fleisch, dass man wirklich meint, reinbeißen zu können."

Nicht weniger vernarrt in Helena/Minichmayr zeigte sich Ulrich Weinzierl in der Tageszeitung DIE WELT. Wir zitieren jedoch Weinzierls Gesamturteil:

"Für die Wiener Festwochen, im Burgtheater zu Gast, inszeniert Luc Bondy die ‚Helena' à la Handke heiter und hell, teils näher bei [Jacques] Offenbach als bei Euripides: eine beschwingte Salonkonversationskomödie, gleichsam antiker Edelboulevard. Freilich, trotz aller ironischen Brechung, mit tieferer Bedeutung."

Bevor wir zur Würdigung der großen Männer kommen, gedenken wir der toten Vögel, die ihr Leben in dem Öl ließen, das aus dem BP-Bohrloch im Golf von Mexico sprudelt und sprudelt und sprudelt.

In der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG reflektierte Alex Rühle auf die Wirkung der Fotos ölverschmierter Pelikane und Lachmöven, die der AP-Fotograf Charlie Riedel gemacht hat - obwohl BP Unmengen giftiger Ölbindemittel weit vor der Küste ins Meer kippen ließ, damit solche fatalen Fotos gar nicht erst möglich würden.

"Aus den Augen der verschmierten Vögel schaut einen gewissermaßen die geschundene Schöpfung an [schrieb SZ-Autor Rühle]. Man kann gar nicht anders, als in sie menschliche Gefühle hineinzuprojizieren, Hilflosigkeit, Entsetzen, Ekel. Angesichts des kollektiven Aufschreis beim Blick auf diese Bilder kann man sagen: Das einzig Gute an dem quälend langen BP-Desaster ist, dass es so nah vor der amerikanischen Küste und damit vor den Augen der Weltöffentlichkeit passiert; dass das Meer den Industriegesellschaften ihren unraffinierten Energiedreck jetzt vor die Küsten kotzt."

Man darf vermuten, dass Alex Rühles Wortwahl von dem Klartext-Fanatiker Marcel Reich-Ranicki belobigt würde.

Was junge Literaturkritiker erlebt haben, wenn sie ihre erste Rezension beim früheren FAZ-Literaturchef Reich-Ranicki ablieferten - das erfuhren die Leser der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG von Frank Schirrmacher. Und zwar, weil das FAZ-Feuilleton Schirrmachers Lobrede anlässlich der Verleihung der Börne-Ehrenmedaille an Reich-Ranicki nachdruckte.

"Das Redigat [so erinnerte sich Schirrmacher seines ersten Auftritts bei RR] wurde von einer besonderen Atemtechnik begleitet, einer Lautkulisse, die vom Seufzen ins leise Zischen hinüberspielte, einer besonderen Form des Ausatmens, die im Wesentlichen mit unterschiedlichen Luftströmen hantierte [...]. Gott, so heißt es in der Kabbala, hat einen Lehmklumpen namens Adam geformt und ihm dann, um ihn lebendig zu machen, zischend Luft durch die Nase eingeblasen. So in etwa saß Marcel Reich-Ranicki vor den Manuskripten."

Schirrmachers Lob mündete in dem Ausruf: "Es ist gut, dass wir so ein Staatsoberhaupt in der literarischen Republik haben."

Die politische Republik sucht indessen ein neues Staatsoberhaupt, weshalb Moritz von Uslar den Topfavoriten Christian Wulff in der Wochenzeitung DIE ZEIT einer "brutalstmöglich oberflächlich[en]" Stilkritik unterzogen hat.

"So glatt und leer geräumt sieht dieser Kandidat aus, dass der Betrachter ihm irgendetwas möglichst Großes, möglichst Falsches wünscht, am besten mitten ins Gesicht hinein: einen Schnauzbart, ein Hornbrillengestell. Ein Foto zeigt ihn mit einer Hautrötung am Hals, wohl einer Verletzung vom Rasieren. Schon denkt man: Da ist er doch, der Charakterzug!"

Verspottet wurde Christian Wulff also in der ZEIT. Joachim Gauck aber erntete in fast allen Feuilletons Zustimmung. Mit dem lautesten Hosianna ließ sich die Schriftstellerin Katja Müller-Lange in der FAZ vernehmen:

"Joachim Gauck ist der, der uns fehlt, richtiger der, den wir benötigen, nicht nur, aber wenigstens in diesem Amt, das beschädigt wurde, nicht nur, aber auch von einem Dünnhäutigen, der schlicht die Nerven verlor und der dem Land, dem zu dienen er zweimal geschworen hatte, nun doch einen letzten 'Dienst' erwies, indirekt, indem er einen Kandidaten wie Gauck ermöglichte."

Nicht ganz so enthusiastisch, aber doch äußerst freundlich kommentierten die Feuilletons, dass der Schriftsteller David Grossman in diesem Jahr mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels ausgezeichnet wird.

In der SZ löste Lothar Müller das Paradox, dass Grossmann zugleich beißender Israel-Kritiker und Israel-Verteidiger ist, wie folgt auf:

"Nichts wünscht sich David Grossmann mehr, als dass Israel ewig existiert. Nichts fürchtet er mehr, als dass es zugrunde geht. Und weil er die alten Mythen kennt, schließt dies die Furcht ein, dass Israel zu seinem Untergang durch die Art und Weise betragen könnte, in der es versucht, ihn zu verhindern."

Kommen wir zum Schluss, kommen wir zum Tod... nämlich des Malers Sigmar Polke, der mit 69 Jahren in Köln dem Krebs erlegen ist. Über den Meister der Abwechslung schrieb Swantje Karich in der FAZ:

"Sein Werk [...] dominiert ein Stilpluralismus, der kaum zu erfassen ist, doch die Seele - dieses Wort hätte er wohl abgelehnt - war immer erkennbar und [...] einzigartig: Seine Bilder und Collagen lassen einen am Werk eines Alchemisten teilhaben."

Um uns persönlich zu verabschieden, zitieren wir eine Einsicht Theodor Adornos aus Minima Moralia, die das Lebensmotto von Sigmar Polke hätte sein können:

"Aufgabe von Kunst ist es heute, Chaos in die Ordnung zu bringen."