Vom Zeit-Panorama zur Zimmerschlacht

Von Michael Laages · 27.05.2010
Vom ersten Blick und Augenblick an wird klar: Die große Erzählung spielt im Hier und Jetzt. Was den Blick-Winkel zunächst mal sehr deutlich verschiebt – denn die große Emanzipationsfabel aus dem alten Russland der späteren zweiten Hälfte des vorvorigen Jahrhunderts mag in Teilen ein wenig angestaubt und überholt erscheinen.
Ehebruch und Partnerwechsel, eine Scheidung und generell das Ausbrechen aus den Zwängen einer unglücklichen Ehe sind nicht mehr unbedingt die unübersteigbaren Stolpersteine für eine gesellschaftlich avancierte Frau von heute. Aber die Bielefelder "Anna Karenina" gerät überraschenderweise trotz dieser Zeit-Verschiebung zur weithin überzeugenden Theater-Geschichte: Weil sie sich vom Panorama schwieriger Zeiten hin verschiebt zur vehementen Zimmerschlacht mit all den innerfamiliären Neurosen und Psychosen, kollektiven wie individuellen Wahn- und Zwangsvorstellungen, die durchaus aktuell und zeitgenössisch sind.

Acht Teile, mindestens 30 signifikant handelnde Personen (in einer handelsüblichen Hörbuch-Fassung immer noch 20) und ein Sortiment von Erzählsträngen, die auch Tolstoi-Kenner zuweilen an den Rand der Ratlosigkeit führen kann – das Team um den Bielefelder Schauspieldirektor Christian Schlüter ist angesichts dieses Monstrums von Roman recht rabiat zu Werke gegangen; gerade noch sieben Akteure bewältigen die überwiegende Mehrzahl der Kern- und Angel-Punkte in Tolstois Erzählung.

Jürgen Höths Einheitsbühnenbild (eine Art Salon mit mehreren Vorhängen und nur ein paar Sesseln, Tischen und Requisiten sowie einer Art Theke im Hintergrund) zwingt alle Ortswechsel der Erzählung zurück in die Imagination des Ensembles; und die Akteure hasten in rasender Geschwindigkeit durch die Szenen, sodass mit der Zeit alles wie ein großes, stark vor sich hin strömendes Palaver wie "nach der Party" erscheint.

Keiner verlässt hier mehr den Raum, alle sagen einander immerzu alles, keine Sehnsucht, keine Verzweiflung bleibt unbeschworen zwischen den mal zueinander, mal voneinander weg driftenden Paaren. Und fast wirkt es schon komisch, mit welcher Beharrlichkeit fast jeder und fast jede unfähig ist und bleibt zum Glück, zum Glücklichsein. Selbst wo sie es gerade mal am Schopf zu fassen bekommen, verheddern sie sich prompt in der eigenen Hyper-Sensibilität, der eigenen Überempfindsamkeit. Sie müssten eigentlich alle zu einem sehr guten Therapeuten – ohne dass viel Hoffnung bestünde, dass der wirklich helfen kann.

Das ist die kreative Wirkung der Zeit-Verschiebung – was in Tolstois gutbürgerlichem Gesellschaftspanorama von vor bald eineinhalb Jahrhunderten einen unausweichlichen, deutlich hin zur radikalen Umwälzung, zum revolutionären Umsturz driftenden Zustand markierte, ist bei Schlüter und in Bielefeld unter gutbürgerlichen Bedingungen von heute eine rasant und radikal realisierte Anleitung zum Unglücklichsein; mit ziemlich viel Distanz und Ironie immer dort, wo die originale Fabel ein wenig arg nach Pathos und Parolen schmeckt. Schlüters Ensemble führt so durchaus auch die Ferne vor, die Fremdheit und Entfernung zu den großen Problemzonenbeschreibungen von früher; zu Gunsten der Verzweiflungen von heute.

Christina Huckles, Bielefelds "Anna", ist schon öfter aufgefallen als Schauspielerin, der unbedingt ganz viele große Rollen und hervorragende Regisseure zu wünschen sind, in Bielefeld und darüber hinaus; sie agiert in dieser Zimmerschlacht als zunächst glänzende, leuchtende Titelfigur; die mit der Zeit dann aber schier zerrissen wird von all den Kräften, realen und eingebildeten, die an ihr und dem Leben zerren, das sie führen will.

Im Ensemble um sie herum ragt neben Nicole Paul und Anna Schumacher, Johannes Lehmann, Georg Böhm und Guido Wachter vor allem Alexander Swoboda heraus, der seine Figur, den Gutsbesitzer Ljewin (eine Figur, die zunächst noch an die Veränderbarkeit der Welt glaubt, dann aber vor allem das eigene Leben ändern kann), virtuos durch ein Wechselbad aus Witz und Wahn treibt; Rumpelstilzchen und Stadtneurotiker in einem. Zwischen Swobodas Ironie und Huckles Fundamentalismus entsteht wie beiläufig eine überraschend dichte, unbedingt sehenswerte Aufführung, für die sich der Stopp in Bielefeld unbedingt lohnt.

Weitere Vorstellungen am 8. und 18. Juni 2010.