Vom Trend zum Stadtgarten

10.05.2012
Die Nähe zur Natur ist das ideale Umfeld, sich selbst zu finden. Der Popmusikjournalist Christoph Braun liefert dafür mit seinem Buch eine Mischung aus Erfahrungsbericht, Agrarreportage und Analyse der landwirtschaftlichen Produktionsweise.
Das Leben auf dem Land scheint in Mode zu sein. Millionen Zuschauer fiebern mit, wenn "Bauer" via Fernsehen "Frau" sucht. Das Senkrechtstarter-Magazin "Landlust" feiert nicht nur "die schönsten Seiten des Landlebens", sondern auch Rekordauflagen, und wer kennt nicht mindestens drei Kollegen, die neuerdings ein Wochenendgrundstück beackern?

Die Nähe zur Natur ist offenbar das ideale Umfeld, sich selbst zu finden; wie geschaffen für den modernen Menschen, der in der Stadt jede Art von Bequemlichkeit und Anregung hat, sich aber irgendwie entfremdet fühlt. Auch der Popmusikjournalist Christoph Braun, Jahrgang 1970, konnte sich – der "Monotonie" seines Daseins geschuldet – dem Sog des Landes nicht entziehen.

2005 siedelte er aus Berlin in das 1500-Seelen-Dorf Evessen bei Wolfenbüttel in Niedersachsen über; in eine leicht trostlose Gegend, in die man als Großstädter nicht wirklich verschlagen werden möchte: Seitdem entdeckt er zwischen Nutzgarten, Kleinfamilie und echten Tieren das Leben neu.

Glücklicherweise war es das aber auch schon an Gemeinsamkeiten mit Hochglanz à la "Landlust" und RTL-Kuppelromantik. Christoph Braun möchte einen Kontrapunkt setzen zur "Verklärung" des Landlebens. Er will die "Idyllenblase" zerschlagen, zeigen, wie es wirklich ist, und das gelingt ihm. Sein Buch ist eine Mischung aus Erfahrungsbericht, Agrarreportage und Analyse der landwirtschaftlichen Produktionsweise.

Darüber schwebt die Frage: Kann er – Christoph Braun – seinem Leben jenen Sinn zurückgeben, der in der Stadt auf der Strecke geblieben ist? Kann er sein Leben "hacken", wie er sein Buch genannt hat, also strategisch eingreifen, um selbstbestimmter leben? Immerhin muss er nicht alles aufgeben. Dank des Internets kann er auch fernab von Berlin als Autor tätig sein und dennoch die Möglichkeiten des Landlebens ausschöpfen.

Präzise beschreibt seine Entwicklung hin zum Landmenschen. Er schildert die Hauptstadt um die Jahrtausendwende, als Berlin zum Partyzentrum wurde und Internetbuden Freiberufler wie ihn ernährten.

Er kritisiert die einsetzende "Selbstzufriedenheit" der Stadt, erzählt von seiner Langeweile, die schließlich zum Umzug führt und nimmt den Leser mit auf den Acker, wo er seinen neuen Freunden beim Anbau hilft. Euphorisch berichtet er, wie entbehrungsreich, aber auch erfüllend der tägliche Kampf mit der Naturgewalt ist - während er parallel weiter über Popmusik schreibt.

Das alles ist ein Lesegenuss. Sicher wirbelt Braun zwischen Berliner Subkultur, eigenen Reflexionen und Bauernhof hin und her. Am meisten beeindruckt, wie es ihm sprachlich gelingt, einen Landstrich erblühen zu lassen, der eigentlich nur aus Acker besteht.

Dennoch bleibt man am Ende irritiert zurück. Wo ist die wirklich neue Erkenntnis, der wirklich neue Lebensansatz? Reicht ein "hinein in die Natur" aus für den großen "Hack" seines Lebens? Man will es ihm nicht abnehmen. Der Verdacht entsteht, dass Christoph Braun in nicht allzu langer Zeit erneut auf die Suche nach Abwechslung gehen könnte. In der Stadt?

Besprochen von Vera Linß

Christoph Braun: "Hacken. Leben auf dem Land in der digitalen Gegenwart"
Klett-Cotta 2012, 138 Seiten, 14,95 Euro


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