Vom Spielplatz an die Front

Vorgestellt von Hans Christoph Buch · 01.07.2007
Trotz internationalen Engagements herrscht in vielen Ländern Afrikas Krieg. Mittendrin: zahllose Kinder und Jugendliche, die sich an den blutigen Raubzügen beteiligen. Auch Ishmael Beah war Kindersoldat. In seinem Buch "Rückkehr ins Leben" berichtet er davon, wie die kriegerische Gewalt ein Teil seines Alltags wurde.
"Nach dem Schusswechsel stürmten wir das Rebellenlager und töteten alle, die wir verwundet hatten. Dann durchsuchten wir die Häuser und nahmen Benzinkanister, unglaubliche Mengen an Marihuana und Kokain, bündelweise Kleidung, Turnschuhe, Uhren, Reis, getrockneten Fisch, Salz und vieles mehr mit. Wir versammelten die Zivilisten – Männer, Frauen, Jungen und Mädchen -, die sich in den Hütten und Häusern versteckten und ließen sie unsere Beute zu unserem Stützpunkt tragen."

Was derzeit in Afrika passiert, erinnert an den Dreißigjährigen Krieg: Fortschreitender Staatszerfall, der sich wie eine Epidemie ausbreitet und große Teile des Kontinents erfasst, dessen Kriegs- und Krisengebiete sich kaum noch an zehn Fingern abzählen lassen. "Failed States" heißt der Fachausdruck dafür, und die Liste reicht von Somalia über Liberia und Sierra Leone bis nach Ostkongo und Südsudan, und weiter von Burundi und der Zentralafrikanischen Republik bis zum Bürgerkrieg in Côte d’Ivoire und dem Völkermord in Darfur. An all diesen Orten sind UN-Blauhelmsoldaten, afrikanische oder französische Friedenstruppen stationiert, um zu verhindern, dass Angehörige verfeindeter Ethnien sich gegenseitig massakrieren.

Wie der Konflikt zwischen Katholiken und Protestanten im Dreißigjährigen Krieg gerät der Auslöser der Kämpfe in Vergessenheit, und das Foltern und Vergewaltigen, Brandschatzen und Plündern wird zum Selbstzweck. Selbsternannte Kriegsherren verdrängen gewählte Politiker, und eine unheilige Allianz von Rebellen und Mafia tritt an die Stelle der Regierung und der zur Stammesmiliz mutierten Armee, die sich, da sie keinen Sold bekommt, an der Zivilbevölkerung schadlos hält. Horden von Landsknechten ziehen sengend und mordend umher, und der Krieg finanziert sich selbst durch Schmuggel von Gold und Diamanten, Uran und Coltan, Erdöl und Tropenholz, deren Erlös dem Ankauf von Waffen dient. Kleinster gemeinsamer Nenner, Subjekt und Objekt des Krieges sind Kindersoldaten, die den qualvollen Tod von Eltern und Geschwistern mit ansehen müssen, bevor sie mit Drogen gefügig gemacht und als Lastträger, Kanonenfutter oder Sexsklavinnen missbraucht werden.

"Vieles geschah ohne Grund oder Erklärung. Manchmal erhielten wir ganz plötzlich, während wir gerade einen Film ansahen, den Befehl, auszurücken. Stunden später, nachdem wir viele Menschen getötet hatten, kehrten wir zurück und sahen den Film zu Ende, als wären wir gerade aus der Pause gekommen. Wir befanden uns entweder direkt an der Front, sahen Kriegsfilme oder nahmen Drogen. Zum Alleinsein oder Nachdenken blieb keine Zeit."

Unsere Kenntnis des Dreißigjährigen Krieges verdanken wir weder Schillers Wallenstein-Trilogie, noch der Biographie des Feldherrn von Golo Mann, sondern einem Buch, das uns anstelle von Haupt- und Staatsaktionen die Leiden der Opfer nahe bringt: Grimmelshausens "Simplicius Simplicissimus". Der Autor des ersten deutschsprachigen Romans war selbst ein Kindersoldat, der die Gräuel des Krieges am eigenen Leib erfuhr und zum Mittäter wurde, ehe er seine Sünden bereute und gottgefällig zu leben beschloss. So auch hier.

"Ich komme aus Sierra Leone, und dort ist der Krieg das Problem, das uns Kindern zu schaffen macht. Der Krieg ist schuld daran, dass wir unser Zuhause verlieren und ziellos durch die Wälder streifen. Ich bin der Armee beigetreten, weil ich meine Familie verloren und gehungert habe. Ich wollte den Tod meiner Familie rächen. Außerdem brauchte ich Lebensmittel, um zu überleben, und die einzige Möglichkeit, an Essen zu kommen, war die Armee. Ich bin jetzt rehabilitiert, also habt keine Angst vor mir. Ich bin kein Soldat mehr. Ich bin ein Kind."

Ishmael Beah, der Autor des vorliegenden Buchs, hatte gleich mehrere Schutzengel. Vorher hatte Beah ein von der UNESCO betreutes Enttraumatisierungsprogramm für minderjährige Mörder mitgemacht, deren Wiedereingliederung in die Gesellschaft das arme Sierra Leone vor unüberwindliche Probleme stellt - beginnend beim Drogenentzug. Dass er diese Hürden überwunden und alle Schwierigkeiten gemeistert hat, ist ebenso erstaunlich wie Grimmelshausens wundersame Wandlung vom Landsknecht zum Schriftsteller. Trotz dessen schwarzer Hautfarbe und muslimischer Religion hätte der Deutsche den Afrikaner als Herzensbruder begrüßt, denn Beahs Erzähltalent, seine kindliche Beobachtungsgabe und sein über das Elend triumphierender Witz stehen dem des Barockdichters nicht nach. Sein Buch hat nur eine Schwäche, die eher aufs Konto der UNESCO als auf das des Autors geht: Sexualität kommt nur am Rande vor, obwohl das Foltern und Morden im afrikanischen Busch eine sexuelle Komponente enthält, die hier der politisch korrekten Zensur zum Opfer fällt.

"Sie zog mich an sich heran, und ich hielt sachte ihre Hand, während wir uns im Takt der Musik wiegten. Ich spürte, wie ihr Herz klopfte. Sie versuchte, mir in die Augen zu sehen, aber ich wich ihrem Blick aus. Die Erinnerung an einen Ort, den wir während einer Schulfeier angegriffen hatten, war wieder erwacht. Ich konnte die entsetzten Schreie der Lehrer und Schüler hören und sah, wie das Blut die Tanzfläche bedeckte. Allie tippte mir auf die Schulter und holte mich in die Gegenwart zurück."

Ishmael Beah: Rückkehr ins Leben. Ich war Kindersoldat
Aus dem Englischen von Conny Lösch
Campus Verlag, Frankfurt - New York, 2007