Vom Lieben und Hoffen auf Wiederkehr

26.08.2010
In "Purgatorio" nimmt Tomás Eloy Martínez den Leser mit in das Argentinien der Militärdiktatur - der Ehemann der Romanheldin wird verhaftet. Zeitlebens wird sie nach ihm suchen, die Hoffnung auf seine Rückkehr nie aufgeben.
Am Ende bleibt jeder allein mit der Erfahrung traumatisierender Erlebnisse. Man kann sie mitteilen und sich auf diese Weise etwas Linderung verschaffen, man kann sich Ablenkungen und eine Art Alltagsfunktionalität organisieren – dem inneren Fegefeuer des Leidens an einem Verlust wird man nicht entgehen.
Emilia, die stille Heldin dieses Romans, ist eine junge Frau Ende 20, als 1976 in Argentinien die Militärs die Macht an sich reißen. Verliebt und frisch verheiratet, dazu aus einer Familie stammend, die durch den Vater sehr eng an das Militärregime gebunden ist, steht der jungen Kartographin ein unbeschwertes Dasein voller Privilegien offen. Eine Katastrophe macht diesem Ausblick ein jähes Ende. Als sie mit Simón, ihrem Mann und Berufskollegen, in eine entlegene und unzureichend dokumentierte Provinz aufbricht, um sie im Auftrag des Automobilklubs zu kartographieren, geraten beide in eine Militärkontrolle und werden der Spionage bezichtigt. Wenige Tage später kommt Emilia frei, die Episode könnte ins Vergessen sinken, aber Simón bleibt verschwunden.

Angeblich ist er wenige Stunden vor ihr entlassen worden, jedoch verlieren sich seine Spuren im Nirgendwo. Emilia bringt Jahre damit zu, ihn zu suchen. Ihre feste, weil tief in ihren Gefühlen verwurzelte Überzeugung, er sei noch am Leben, lässt sie den kleinsten derartigen Hinweis verfolgen. Die Suche treibt sie nach Brasilien, Mexiko, Venezuela, bleibt aber immer ohne Ergebnis. Mehrfach wird ihr berichtet, dass ihr Mann erschossen worden sei, viele Jahre nach dem Ende der Diktatur kommt auch eine offizielle Untersuchung zu diesem Schluss, ihr Glaube, ihr Mann sei am Leben, wird davon nicht erschüttert.
Der Ich-Erzähler dieses Romans lernt Emilia in einer Kleinstadt in New Jersey kennen, wo sie inzwischen lebt. Sie ist um die 60 und hatte nie wieder eine Beziehung zu einem Mann. Bei ihren Treffen erfährt er ihre Geschichte, die nicht zuletzt eine familiäre Tragödie ist: Denn im Verlauf ihrer ausgedehnten Fahndung kommt Emilia mehrfach der Gedanke in den Sinn, ihr Vater könnte hinter diesen vermeintlichen Zeugen stecken, die Simón lebend gesehen haben wollen. Mit ihrem Fall und ihrer unerbittlichen Suche ist sie ein Makel im engsten Umfeld dieses unterkühlten und verbohrten Ideologen und Karrieristen, den er lieber außer Landes weiß. Die zunehmende Entfremdung führt schließlich zum totalen Bruch.
Am Ende dieser Geschichte, das zugleich den Beginn des Romans bildet, "findet" Emilia ihren Simón doch noch wieder. Er ist – im Gegensatz zu ihr – nicht gealtert, gibt kaum Erklärungen über seinen Verbleib ab, liebt aber seine Frau genau wie damals. Das Treffen, die Wiederbegegnung, findet in Emilias imaginierter Parallelwelt statt, in der sie schließlich, beglückt, ganz verschwindet.
"Purgatorio" ist ein herausragender Roman, der mit analytischer Kälte die argentinische Gesellschaft in den Jahren der Militärdiktatur porträtiert und dabei insbesondere die Verderbtheit und Grausamkeit des Regimes nachzeichnet. Zugleich aber ist er ein hochsensibles, psychologisierendes Kammerstück, das im Wechselspiel zwischen Ich-Erzähler und Heldin tiefe Einblicke in den individuellen Umgang mit Diktaturerfahrung und Exil, wie sie eine ganze Generation geprägt haben, erlaubt.

Besprochen von Gregor Ziolkowski

Tomás Eloy Martínez: Purgatorio
Aus dem Spanischen von Peter Schwaar
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2010
320 Seiten, 19,95 Euro

Links bei dradio.de:

Das Ende des Tangosängers
Zum Tod des argentinischen Schriftstellers Tomás Eloy Martínez*
Mehr zum Thema