Vom Elend der Reflexion

Rezensiert von Marius Meller · 26.09.2006
Der Literaturwissenschaftler George Steiner hält Denken für letztlich sinnlos. Sein Essay "Warum Denken traurig macht" ist durchzogen von einem kulturpessimistischen Grundton, der den Schluss nahe legt: Denken ist hoffnungslos und führt zu Überheblichkeit. Die könnte man auch Steiner vorwerfen, der die großen geistigen Werke der Menschheit ad absurdum führt.
George Steiner ist sowohl der Nestor der europäischen Literaturwissenschaften, als auch ihr Hermes. Der 1929 Paris geborene und in den USA intellektuell sozialisierte Sohn von jüdischen Österreichern ist einer der ganz wenigen, die über den elitären Tellerrand der Universität hinausschauen. Wie Nestor ist er der altersweise Lehrer vieler berühmter Schülerpersönlichkeiten, wie etwa des Philosophen Manfred Frank, die selbst zu Meistern ihres Faches wurden. Sein letztes Buch hatte die Beziehung von Meister und Schüler zum Gegenstand, ein Bereich zwischenmenschlicher Erfahrung, der, so die Diagnose des Oxforder Emeritus, der westlichen Kultur im wesentlichen verloren gegangen ist - Steiner beklagt das zutiefst.

Und er ist andererseits eine Art Hermesfigur: Als einer der ganz wenigen seiner Zunft, die neben Fachstudien auch Essays zur Kulturkritik auf der Schnittkante von Akademie und Öffentlichkeit veröffentlichen, weiß er die Formen im journalistischen Grenzbereich aufs eleganteste zu bedienen. Seine Autobiographie "Errata" von 1999 legt Zeugnis ab von einem packenden geistigen Werdegang und engagierter Lehrerschaft in einem extremen Jahrhundert.

Der Dichter Durs Grünbein bezeichnet in seinem kurzen Nachwort den knapp 80-seitigen Text Steiners einmal als "Testament". Würde das zutreffen - man müsste sich ernsthaft Sorgen machen um den charismatischen Gelehrten. Mit jedem seiner jeweils knapp dargelegten "Zehn (möglichen) Gründe, warum denken traurig macht" könnte er einen Studenten der Geisteswissenschaften dazu bringen, sein Studium abzubrechen und doch lieber auf Betriebswirtschaft umzusatteln. Steiner versteht seine Position als sowohl avanciert wie sicher auf der Tradition ruhend. Avanciert, weil er den neusten Stand der Verzweiflung über die Sinnlosigkeit des Denkens zu repräsentieren meint, und auf der Tradition basierend, weil er effektvoll die Autoritäten in ihren schwärzesten Pessimismen anführt.

Doch das Ganze - auch nicht der eindringliche hohe Ton, in dem der Essay abgefasst ist - kann kaum darüber hinwegtäuschen, dass hier nur noch einmal aus den skeptizistischen Theoremen der Philosophie des 20. Jahrhunderts und auf der Grundlage der bisweilen naturgemäß von ihrer Denkarbeit auch enttäuschten Denker aller Zeiten eine Apotheose des unglücklichen Bewusstseins unternommen wird.

Manchmal wirkt das leider unfreiwillig komisch: Steiner sieht die Aporie in jedem Denkakt. Denken, diagnostiziert er verdrossen, ist immer ein ungeordnetes, "dilettantisches Unterfangen", stets ist es "Déja-vu". Ausgesprochen zu bedauern ist nach Steiner, dass das "Streben nach Wahrheit" immer "vergeblich" sei. Man sollte besser von "Hirnemissionen" reden, so Steiner, denken ist für ihn Notdurft des Geistes. Die Gedanken sind flüchtig.

Dass viele Handlungen "intuitiv oder mittels erworbener Reflexe" - also "gedankenlos" - ausgeführt werden, erfüllt ihn mit Grausen:

"Ein berühmtes Beispiel: Würde der Tausendfüßler über seinen nächsten Schritt nachdenken, käme es zu einer selbstzerstörerischen Blockade."

Steiner scheint das richtiggehend zu entsetzen:

"Ein Gedanke, der einen frösteln lässt."

Einen stolpernden Tausendfüßler würden jedoch nicht nur hart gesottene Zyniker als komisch empfinden. Aber lässt sich dieses Gedankenexperiment durchaus noch als höhere Form der Tierliebe interpretieren, seine Ausführungen zur leeren Zwecklosigkeit des Denkens am Beispiel der Leere, die "die Zigarette nach dem Orgasmus" zeige, lässt auch den unvoreingenommenen Leser schmunzeln.

Denken ist hoffnungslos, weil ohne Hoffnung, Denken verhüllt mehr, als dass es enthüllt. Denken ist immer Missverstehen, Denken ist Quell der Verwirrung. "Groß Denken" können immer nur ganz wenige, das ist höchst ungerecht. Einmal rutscht es Steiner heraus:

"Letztlich führt all dies jedoch nirgendwo hin."

Es ist nicht auszuschließen, dass Steiner auch seinen eigenen Essay in diesen Stoßseufzer mit einbezieht. Zu guter Letzt konstatiert er: Denken macht hybrid, führt zur Überhebung. Der Kopf schüttelnde Leser kann hier nur ergänzen, dass auch die Lamentatio über die bescheidenen menschlichen Fähigkeiten vor Hybris nicht sicher ist.

Wie Mehltau jedoch liegt Steiners Wahrnehmungsweise, die möglicherweise in jedem der "zehn Gründe" sachlich noch so berechtigt ist, über den Schätzen der philosophischen Überlieferung. Aber die nur angesichts auch Steiners Werk nur als kokett zu beschreibende dauerpessimistische Wertung legt den Schluss nahe: Steiner scheinen Kategorien wie Größe und Genie wichtiger zu sein als die Sache, die großen Werke der Tradition.

Wie kann man den Renaissance-Optimismus eines Nicolaus Cusanus unerwähnt lassen, der Mathematik mit der Ethik verbinden wollte, und für den die Grenzen des Denkens seine Würde ausmachten? Wie kann man abstreiten, dass ein "System" wie das von Kant oder Hegel auch als schön und euphorisierend erscheinen kann, unabhängig von ihrem Wahrheitsgehalt. Wie kann man Sophokles' berühmte Chorrede aus der Antigone über den schaffenden Menschen als nur pessimistisch lesen, wenn er doch die Schönheit der menschlichen Fähigkeiten genauso wie deren Gefahren zum Ausdruck bringt?

Durs Grünbein steht der unfreiwilligen Komik George Steiners in nichts nach, ja übertrifft sie bisweilen sogar klischeesicher. Etwa wenn er den Steinerschen Text mit "gewissen Tonsatz-Experimenten eines Bach oder Schönberg" vergleicht. George Steiner imaginiert sich Grünbein "in der Synagoge weit hinten sitzend", "in Rembrandtsches Dunkel gehüllt". Dann aber bitte auch mit Rembrandthut! Steiner wie Grünbein hängen einem larmoyanten Kulturpessimismus an, der an den Negativismus-Klischees des 20. Jahrhunderts klebt wie zähes Pech. Von dem großen Essayisten George Steiner ist zu hoffen, dass er endlich wieder Lebensfreude aus den geliebten großen Werken des Geistes ziehen möge. Denken kann nämlich auch ohne Wahrheitsgarantie Spaß machen.

George Steiner: Warum Denken traurig macht. Zehn (mögliche) Gründe
Aus dem Englischen von Nicolaus Bernhorn
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2006
92 Seiten, 14 Euro 80.