Vom berüchtigten Viertel zum Szenestadtteil

Von Claudia Sarre · 09.07.2012
Vor einigen Jahren noch mussten New Yorker Angst haben, in der U-Bahn einzuschlafen und irgendwo in Harlem wieder aufzuwachen, überfallen und ausgeraubt zu werden. Diese Zeiten sind vorbei. Immer mehr Studenten, Künstler und junge Familien ziehen in das Gebiet nördlich des Central Parks.
Mit den Yuppies kommen Szene-Kneipen, Restaurants und Yoga-Studios. Dennoch ist das alte Harlem bis heute spürbar: Das legendäre Apollo-Theater, Jazz-Clubs und unzählige Baptistenkirchen erinnern an eine bewegte Vergangenheit, in der Jazz-Größen wie Ella Fitzgerald, Duke Ellington und Miles Davis groß wurden.

"Ich lebe seit elf Jahren in Harlem und schaue dabei zu, wie es sich verändert. Ich liebe das Viertel. Es hatte immer schon eine großartige Geschichte, aber jetzt ist es auch ein großartiger Ort zum Leben - mit einer sehr lebendigen Szene."

Sagt Karl Franz Williams, der hier seit kurzem die Cocktailbar "67 Orange" betreibt. Der attraktive Barkeeper mit Dreadlocks und lässigem Hut ist ein typischer Vertreter des neuen Harlem. In seiner Kneipe mischen sich die alteingesessenen Harlemites und die gestylten Hipster aus Downtown Manhattan. Karls Eltern kamen einst aus der Karibik nach New York.

"Seit Ewigkeiten existiert hier ein großartiges karibisches Restaurant, das ich sehr schätze. Aber jetzt gibt es noch mehr Optionen. Bald öffnet hier eine Sushi-Bar, es gibt einen Edel-Italiener, wir haben Beer International, eine Art Biergarten, und Harlem Tavern, eine Sports Bar. Die Leute in Downtown haben immer damit angegeben, das sie nur aus dem Haus fallen müssen, um auszugehen. Jetzt habe ich das auch hier oben und außerdem noch viel mehr Platz als die da unten."

Mehr Platz für weniger Geld, das ist das schlagende Argument für viele junge Familien, Künstler und Studenten, nach Harlem zu ziehen. Kaum jemand kann sich die überteuerten Mieten in Downtown noch leisten. Statt 5.000 Dollar für eine Zwei- bis Drei- Zimmerwohnung, zahlen Mieter in Harlem weniger als die Hälfte - und sind auch nur rund 30 U-Bahn Minuten von der Wall Street entfernt. Allerdings ziehen die Preise gewaltig an, - wie in allen Gegenden, die sich quasi über Nacht zu angesagten Wohn- und Ausgehvierteln entwickeln.

"Als wir hier aufgemacht haben, hat ein Haus 230.000 Dollar gekostet. Jetzt kostet dasselbe Haus drei Millionen Dollar. Und es sind nur zehn Jahre vergangen."

Erzählt Leah Abrahmson, die eine Avenue weiter sozusagen als "Harlem-Pionierin" schon vor zehn Jahren die gemütliche Winebar "Settepani" aufgemacht hat. An einem kleinen Tischchen sitzen bei Kerzenschein zwei weiße Geschäftsleute und nippen an ihrem Chianti. Am Nebentisch diskutieren zwei schwarze Paare die Speisekarte. Lackierte Fingernägel, auffälliger Goldschmuck und die extravagante Garderobe der Damen verraten, dass sie zu den besser verdienenden Harlemern gehören.

"Manchmal sieht man die Frau von nebenan und den Fernsehpromi an einem Tisch sitzen. Unser Lokal ist wie ein riesiges Wohnzimmer. Die Kunden stammen aus allen Gesellschaftsschichten."

Am Anfang, erzählt die gebürtige Äthiopierin, habe sie es als Gastronomin schwer gehabt. Ihre Nachbarn hätten sie argwöhnisch beäugt und sich gefragt, wozu man in einem armen Schwarzenviertel einen schicken Italiener brauchte, in dem Mozzarella Caprese 15 Dollar und Spaghetti Pomodoro 20 Dollar kosteten. Aber nach und nach hätten die Leute erkannt, dass sie keine Bedrohung für das Viertel darstelle.

Wenn man an der 125. Straße aus der Subway steigt, steht man auf dem Martin Luther King Boulevard, der Hauptschlagader des pulsierenden Stadtteils. Der Himmel ist hier weiter, die Avenues breiter und die Häuser niedriger als in den Wolkenkratzerschluchten 100 Blocks weiter südlich. Aber auch hier hat die Globalisierung mittlerweile ihre Spuren hinterlassen. Starbucks, Handyläden und etliche Bekleidungsketten wie Foot Locker und H&M haben hier Filialen eröffnet. Eines ist jedoch anders: Die Schaufensterpuppen sind dunkelhäutig und oft etwas üppiger als in anderen New Yorker Shopping-Malls.

"Als ich Kind war, gab es diese Riesenshops nicht. Da gab's nur die kleinen Tante Emma-Läden. Die Gentrifizierung hat eben Vor- und Nachteile. Manchmal verdrängen die großen neuen Geschäfte die kleinen, alten Lädchen. Aber auf der anderen Seite gibt's dann auch mehr Jobs. Und es ist praktisch, gleich vor der Haustür einkaufen zu gehen."

Noch gibt es aber auch viele kleine Einzelhandelsgeschäfte. Im altmodischen Schuhgeschäft Rainbow stehen die Schuhe in Reih und Glied im Schaufenster. Knallgelbe Etiketten zeigen die Preise an, kein Paar kostet mehr als 60 Dollar. Die Leute in Harlem sind bei weitem nicht so schick gekleidet wie etwa in Soho oder auf der Upper Westside - und auch nach der Idealfigur sucht man hier vergeblich. Jaylene erinnert sich, wie sie als kleines Mädchen an der Hand ihrer Eltern sonntags über die Hauptstraße gehüpft ist.

"Zu einem perfekten Wochenende hat gehört, auf der 125. Straße eine Frikadelle zu kaufen: bei One Stop Pattie Shop - den gibt's heute noch! Dann Schaukeln im Saint Nick's Park und natürlich sonntags in die Kirche. Ich bin zu Saint Tabernekel gegangen. Diese Kirche habe ich immer geliebt."

Die fliegenden Händler gab es früher schon. Sie verhökern Bücher, gefakte Sonnenbrillen, DVDs und Parfüms. Vor einem kleinen Barbershop steht ein verblichenes Schild: Haircut 10 Dollar. Drinnen lässt sich ein älterer Herr ganz traditionell nass rasieren, während im Hintergrund der Fernseher dröhnt. Zwei Jugendliche rollern mit ihren Skateboards gelangweilt den Bordstein entlang. Typischer amerikanischer Alltag, wie er in jeder Vorstadt vorkommt.

An der 125. Straße hat sich in den 20er Jahren das kulturelle Leben abgespielt. Schon damals galt hier die Maxime "Sehen und gesehen werden".

"Die beste Zeit war, an einem Sonntagvormittag die Straße entlang zu flanieren. Da sah man die unglaublichste Mode. Damals hatten Frauen Hüte auf, die in Europa von den Royals getragen wurden. Übrigens heute auch noch! Die Leute gingen am Sonntagmorgen in die Kirche und stießen auf diejenigen, die von den Jazzclubs nach Hause kamen."

…beschreibt der Historiker Jonathan Gill die Atmosphäre während der Harlem Renaissance. Harlem war damals nicht nur Wohnort der schwarzen Mittelklasse, sondern vor allem Anziehungspunkt für afroamerikanische Künstler, Schriftsteller und Musiker aus den gesamten Vereinigten Staaten. "New Negro Movement" nannte sich diese neue Bewegung der Farbigen. Rassismus und Klassenunterschiede gab es dennoch.

"Die meisten Afroamerikaner konnten sich das Nachtleben - Jazzclubs, Musik, Kino und Tanz - nicht leisten. Jazzclubs waren außerdem nur für Weiße. Schwarze konnten dort nur als Kellner oder Rausschmeißer arbeiten - oder als Musiker. Um so erstaunlicher, zu welchem Ruhm es Leute wie Duke Ellington, Cab Calloway oder Langston Hughes gebracht haben."

Duke Ellington war nur einer von vielen Jazzmusikern, die während der Harlem Renaissance Karriere machten. Der "Duke" - wie er auch genannt wurde - spielte mit seiner Band im exklusiven Cotton Club und nahm 1924 seine erste Platte auf. Nur wenige Jahre später ging er mit seinem Duke Ellington Orchestra auf Europa-Tournee und komponierte Jazzsuiten, die es einmal zu Weltruhm bringen sollten.

"Harlem Renaissance war definitiv die wichtigste Zeit in Harlem. Damals haben die Leute gesagt WOW - ich muss nach Harlem, da geht's ab. Und das gleiche sagen sie ja heute - hey, ich muss nach Harlem und dieses neue Restaurant mal ausprobieren!"

Noch heute erinnern viele Straßenschilder in Harlem an Jazzgrößen, die hier gelebt und gespielt haben: der Nat King Cole Walk zum Beispiel, der Louis Armstrong und der Count Basie Place. Aber von den berühmten Jazzclubs von damals seien heute nicht mehr viele übrig, erzählt Jazzexperte Gordon Polatnik.

"Die meisten Clubs existieren nicht mehr, aber ein paar mit Geschichte gibt es noch. Zum Beispiel die Lenox Lounge mit dem schönen Art Deco Look. Die gibt es seit 1939. Minton's Playhouse ist ein anderer Club mit Tradition, der Geburtsort von Bebop Jazz. Dort spielten Thelonius Monk, Charlie Parker und Dizzi Gillespie, die diesen neuen Jazz-Stil geprägt haben."

Zweimal in der Woche wird in einem Wohnhaus in der 132. Straße gejammt. Im Souterrain ist ein Veteranen Club untergebracht, die American Legion Post. Der niedrige Raum mit dem Linoleumboden, den Plastikstühlen und der Original 50er-Jahre Hammond Orgel wirkt eher wie ein Hobbykeller als ein Jazzclub. An der Bar sitzen alte Männer mit viel Gold in den Zähnen und noch mehr Pomade im Haar. Aber auch japanische Touristen verirren sich gelegentlich in die Pinte.

"Wenn man hier reinkommt, würde man nicht erwarten, dass man hier - neben billigen Drinks und Essen - mit soviel Herzlichkeit empfangen wird. Harlem hat sonst ja eher den gegenteiligen Ruf!"

Der schlechte Ruf Harlems rührt aus den Jahren, als die Gegend jenseits der 96. Straße ein verkommener Slum war. Nach dem Zweiten Weltkrieg war ein Großteil der schwarzen Bevölkerung ohne Job. Rassenbedingte Straßenkrawalle brachen aus, ganze Straßenzüge brannten nieder. In den neu entstandenen Sozialbausiedlungen hausten Armut und Elend - Harlem wurde zum Ghetto. Aus dieser Zeit stammen die sogenannten "Rent-Parties": Hauskonzerte, die einige Familien in ihren engen Wohnungen abhalten, um mit den Einnahmen die Miete zu bezahlen.

Solche Jazzkonzerte gibt es zum Beispiel im Wohnzimmer von Marjorie, einer rührenden Dame mit weißen Löckchen. Jeden Sonntag kommen ein paar Dutzend fremde Menschen in ihre kleine Wohnung im 11. Stock eines Apartmenthauses am Sugar Hill in Harlem.
Sie selbst sitzt am Klavier. Hinter ihr an der Wand hängen gerahmte Fotos ihrer Familie. Nur drei ihrer fünf Söhne leben noch.

"Mein Sohn Philipp starb im August 1992, das war ein Sonntag. Damals bekam ich jeden Sonntag einen Nervenzusammenbruch. Also hab´ ich mit diesen Konzerten angefangen - in Gedenken an ihn. Ich kann es jetzt noch nicht glauben, dass jede Woche all diese wunderbaren Menschen kommen."

Ihr Wohnzimmer, sagt Marjorie, stehe jedem offen - egal welcher Hautfarbe oder Nationalität.

An jeder Ecke in Harlem steht eine Kirche, manchmal sind es sogar zwei. Jeden Sonntag pilgern nicht nur die Harlemites, sondern auch Heerscharen an Touristen in die oft dreistündigen, emotionsgeladenen Gospel-Gottesdienste. Während der schlimmsten Tage Harlems waren die Baptistenkirchen die letzten Bastionen von Würde und Anstand. Prediger und Kirchengemeinden kämpfen seit Jahrzehnten gegen Rassendiskriminierung und für bessere Lebensbedingungen.

1965 stirbt der schwarze Freiheitskämpfer und Baptistenprediger Martin Luther King. Harlem erlebt seine wohl dunkelste Zeit. Ganze Häuserzeilen stehen leer und verwahrlosen. In den Hinterhöfen und der Kanalisation tummeln sich Scharen von Ratten. Schießereien und Bandenkriege sind an der Tagesordnung. Harlem ist wie ausgestorben. Fast die Hälfte der Bevölkerung ist in andere Stadtteile abgewandert. Die Herrscher des Viertels sind Mafia-Bosse und Drogenhändler.

In dieser Zeit zog das Ehepaar Margaret und Quincy Troupe nach Harlem. Der billigen 8-Zimmer-Wohnung mit dem fantastischen Blick über Manhattan konnten sie nicht widerstehen. Angst hatte der renommierte Dichter und Autor Quincy Troupe damals zwar nicht, aber manchmal sei ihm schon mulmig gewesen, gibt er zu.

"Keiner kam damals hierauf. Als wir hierher gezogen sind, war es echt hart.
Es war beängstigend. Das Viertel war ein Dreckhaufen. Die 116th Straße war voll mit Drogenabhängigen, eine Methadon-Ausgabestelle nach der nächsten. An der 8. Avenue, der heutige Restaurantmeile, gab es nur Junkies und ausgebrannte Gebäude. Es sah furchterregend aus."

Die 80er Jahre mit der Crack-Epidemie seien fast noch schlimmer gewesen, die Hölle, erzählt Margaret Troupe. Vor jedem Hauseingang habe sie Angst gehabt, von einem Drogenabhängigen überfallen zu werden. Nachts sei sie gar nicht mehr auf Straße gegangen. Aus dieser Zeit stammt die Warnung vieler Reiseführer, spätabends keinesfalls in der New Yorker U-Bahn einzuschlafen und irgendwo oben an der 145. Straße auszuwachen. Als Weißer hatte man damals in Harlem schlechte Karten.

"Es hat zehn Jahre gedauert, bis wir irgendeine Besserung sahen, mindestens zehn Jahre. Als wir dann die Methadon-Ausgabestellen los waren, hat das auch den Drogenhandel eingedämmt."

Heute ist das Apartmenthaus der Troupes, ein 100 Jahre altes Jugendstilgebäude, wohl eines der schönsten Häuser in Harlem. Der 72-jährige Quincy mit den Dreadlocks schreibt hier oben im siebten Stock seine Bücher. Seine hübsche Frau organisiert jeden Monat in den großzügigen Räumlichkeiten den "Harlem Art Salon" mit Lesungen, Ausstellungen und Musik. Das Künstler-Ehepaar ist heilfroh, so lange durchgehalten zu haben.

"Wir wollten hier wohnen! Wir hätten es uns auch leisten können, woanders zu leben. Aber wir erkannten die Vorzüge und das Potential."

In den späten Achtzigern strömen westafrikanische Einwanderer nach New York. Die Senegalesen lassen sich in den Straßen rund um Quincys und Margarets Haus nieder. Little Senegal entsteht - mit kleinen afrikanischen Geschäften und Restaurants. Auf einem Afrika-Basar um die Ecke verkaufen Frauen hölzerne Armreifen, handgeflochtene Körbe und bunte Taschen.

Klein-Senegal gehört heute zum kunterbunten Harlem wie die schönen Herrenhäuser im historischen Mount Morris Park Distrikt, dem Campus der City University New York und dem Latino-Lifestyle im östlichen Teil, in Spanish Harlem.

Fast 100 Jahre ist Harlem Sinnbild schwarzer Kultur und Selbstbehauptung gewesen. Heute leben in dem Stadtteil zwischen Harlem River und Hudson River erstmals wieder mehr Weiße als Schwarze. Für Jaylene steht fest, dass sie von hier - und sollte sie noch so berühmt werden - niemals wegziehen wird.

"Ich liebe Harlem, weil es mein Zuhause ist. Aber auch weil es schon immer das Zentrum des "schwarzen Amerikas" gewesen ist - mit so vielen berühmten Leuten. Ich finde die Leute, die hier leben, wundervoll. Ich schau´ sie mir an und denke, das ist mein Zuhause, damit kann ich mich identifizieren! Ich fühle mich wirklich privilegiert, hier zu leben."

Die Einheimischen beobachten den rasanten Wandel ihres Viertel mit Verwunderung, Misstrauen oder Wohlwollen. Die allermeisten sind jedoch froh, dass die schlimmen Slum-Zeiten, als ein Ausflug nach Harlem lebensbedrohlich gewesen ist, vorbei sind. Man müsse bei dieser rasanten Umwälzung nur aufpassen, dass die alten Harlemites nicht aus ihren Wohnungen gedrängt würden, gibt Margaret Troupe zu bedenken.

"Ich finde es nicht gut, wenn Schwarze unser Viertel verlassen müssen. Schließlich zieht es die Leute nach Harlem wegen seiner Vergangenheit, seiner kulturellen Identität und seiner besonderen Prägung. Ich will nicht, dass das verloren geht."

Schon hat die Stadt New York ganze Straßenzüge im Mount Morris Park und am Sugar Hill unter Denkmalschutz gestellt. Uralte Bruchbuden, die früher einfach abgerissen worden sind, werden heute liebevoll saniert - das sind die angenehmen Seiten der Gentrifizierung.
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