Vom Aufprall der Systeme

08.02.2010
Eine großartige Romanidee. Die Astrophysikerin Henriette, in einem Berliner Institut beschäftigt, hat den Wunsch, ins All zu fliegen, obwohl gerade sie wissen müsste, dass das All "nichts war als – Nichts".
Ulrike Draesner bindet mit Vor- und Rückblenden die Biographien von vier, Henriettes Leben umkreisenden Hauptpersonen in den Text ein und vergnügt sich dabei, Henriette in Perspektivwechseln von oben auf die Erde blicken und in gedanklichen Exkursen im "alten All" herumfliegen zu lassen. Durch einen sehr irdischen Zusammenprall eines Citroën, gesteuert von Henriettes Freund Ash, mit einer Fahrradfahrerin, wird die rasante Wissenschaftlerin Henriette mit dem Lasso des Alltags auf die Welt zurückgeholt.

Wenn das All das "Nichts" ist, dann ist die irdische Existenz, jedenfalls in Draesners Roman, eine Verquickung von Zufällen. Ein Verkehrsunfall kann die schrecklichsten Folgen haben. Hier, in diesem Buch bringt er alles durcheinander. Maria, das Unfallopfer, ist zwar mit einer Gehirnerschütterung einigermaßen davongekommen, aber das Leben von Henriette und Ash gerät, wie in einem physikalischen Versuch, durch diesen Unfall aus der Bahn. Wie bei der Kollision zweier Himmelskörper sprengt das Ereignis das Leben von vier Menschen aus der Umlaufbahn. Peter, Marias Mann, Pastor und leidenschaftlicher Bibelforscher, ist die frühe, aus den Augen verlorene Liebe von Henriette, eben die: "Vorliebe".

Die alte Romanze beginnt neu, und Ulrike Draesner unternimmt den komplizierten Versuch, die Schwerelosigkeit des Weltalls gegen die Schwerkraft der Erde zu setzen, die körperliche Liebe, das Ineinander-Verschmelzen und Aneinander-Festhalten gegen das Bodenlose. Draesner schafft sich in Nebensätzen Raum für kluge Erkenntnisse, die Wissenschaftstheorie mit Beziehungstheorie verbinden.

"Bei einem Paar ist immer der Schwächere um den Stärkeren gegossen. Eine Form. Zerstörst du den einen, zerstörst du den anderen."

Draesner erzählt so komplex, wie sie denkt, und es ist deshalb auch nicht immer leicht, den Erzählebenen zu folgen. Doch der Roman ist klug komponiert, weil Reflexion und Beschreibung einander abwechseln. Ulrike Draesner verfügt über eine Sprache, die von lyrischer Überhöhung in die Senken des Alltagsjargons stürzt. Der Bibelforscher und die Frau, die ins All möchte, sind das unerlaubte symbiotische Paar. Das Abheben aus dem irdischen Dasein gelingt nur im Liebesakt. Das Leben stellt sich dagegen und macht den finalen Strich, und Henriette denkt Dinge, "die sie gar nicht interessieren".

Es geht in dem Roman "Vorliebe" nur oberflächlich um einen Liebesbetrug und um das Thema von Schwäche und Stärke. Eigentlich handelt das Buch fast gleichnishaft vom Aufprall der Systeme, von der Unmöglichkeit, selbst in einem Institut für Astrophysik den Kosmos zu denken. "Hinauffliegen?" sagt Henriette zu sich und stutzt sich selbst zurecht: "Träumerin". So wie das Buch mit einem alles auslösenden Unfall beginnt, endet es mit einem unwiderrufbaren Finale.

Besprochen von Verena Auffermann

Ulrike Draesner: "Vorliebe"
Luchterhand Verlag, München 2010,
253 Seiten, 19,95 Euro