Völkerrecht

"Alle Grenzen sind gemachte Grenzen, keine gefundenen"

Ein ukrainischer Grenzbeamter errichtet eine Sperre an der russisch-ukrainischen Grenze in der Nähe des Ortes Goptivka.
Ein ukrainischer Grenzbeamter errichtet eine Sperre an der russisch-ukrainischen Grenze in der Nähe des Ortes Goptivka. © dpa / picture-alliance / Sergey Kozlov
Christoph Möllers im Gespräch mit Korbinian Frenzel · 17.03.2014
Sie trennen und sie formen: Grenzen zwischen Staaten sind immer wieder Ursache von Konflikten. Der Rechtswissenschafler Christoph Möllers glaubt, dass wir sie trotzdem brauchen.
Korbinian Frenzel: Es hat stattgefunden, und es hat das erwartete Ergebnis gebracht – das Referendum auf der Krim. Die große Mehrheit will den Anschluss an Russland, will die Grenzen neu ziehen. Ich mache jetzt einen gedanklichen Sprung, einige Tausend Kilometer nach Westen, nach Washington. Da trifft Palästinenserpräsident Abbas heute Barack Obama, und es wird darum gehen, Grenzen zu denken für einen palästinensischen Staat. Und ich nehme ein Drittes: Serbien hat gewählt gestern, ein Land, das in den letzten 20 Jahren zig mal seine Grenzen verändern musste.
Die drei Dinge haben eigentlich nichts miteinander zu tun, und sie haben es doch, nämlich in einer Frage: Wie setzen wir Grenzen, und wann akzeptieren wir es, wenn sie verändert werden. Fragen an Christoph Möllers, Professor für öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Einen schönen guten Morgen!
Christoph Möllers: Guten Morgen, Herr Frenzel!
Frenzel: Gibt es Grenzen, die einen Anspruch auf Ewigkeit haben?
Möllers: Nein, das denke ich eigentlich nicht. Ich glaube, dass man sagen muss, dass Grenzen schon eine Konstruktion sind von Gemeinschaften, die sich ein Innen und ein Außen geben wollen. Und deswegen gibt es historisch auch keine Grenzen, die irgendwie nicht verändert wurden. Alle Grenzen, die wir kennen, sind erst mal gemachte Grenzen, keine gefundenen.
Frenzel: Gibt es einen guten Weg, diese Grenzen zu machen, gute Kriterien, an denen man sich orientieren kann, zum Beispiel Sprachräume?
Möllers: Nicht notwendig. Es gibt Länder, etwa in Indien ist es sehr auffällig, in denen Sprachgrenzen eine Rolle spielen, in denen auch immer wieder die Grenzen zwischen den Bundesstaaten, also innerhalb Indiens, nach Sprachgrenzen neu gezogen wurden. Ob das ein gutes Kriterium ist, hängt so ein bisschen auch davon ab, was man möchte. Denn wenn man eine Gemeinschaft haben will, in der alle gleich sind und alle das Gleiche sprechen, dann ist es vielleicht eine gute Lösung. Aber es wird auch immer Minderheiten geben, die eine andere Sprache sprechen, und es ist fraglich, ob man die Minderheiten einfach woanders hin verfrachten kann, wo dann ihre Sprache gesprochen wird. Insofern ist auch das Kriterium problematisch, wie alle anderen.
"Das Völkerrecht ist sehr veränderungsresistent"
Frenzel: Das war ja das Kriterium, das ganz stark in Europa auch angewandt wurde, gerade nach den beiden Weltkriegen, nach dem Ersten, nach dem Zweiten – in der Logik mit ganz vielen Vertreibungen, ganz vielen grausamen Vertreibungen. Aber ist es vielleicht doch der Weg der Spannungen dann langfristig am besten vermeidet?
Möllers: Ich denke, der Weg, der Spannungen am langfristigsten vermeidet, ist natürlich auch immer der, sich damit abzufinden, dass man mit Leuten zusammenlebt, die andere Sprachen spricht als man selbst. Und es gibt ja selbst heute in Europa immer wieder mal nicht so viele Beispiele für Gemeinschaften, die einfach sprachlich sozusagen komplett homogenisiert sind. Und es ist auch nicht immer klar, dass das die besten Lösungen sind. Wir können ein Land wie die Schweiz nehmen, das uns ein Vorbild an Stabilität und Funktionalität darbietet, in der die Leute halt keine gemeinsame Sprache sprechen.
Frenzel: Hilft uns denn das Recht, legitime Grenzen zu ziehen? Oder ist das Recht, gerade das Völkerrecht am Ende doch immer, wir sehen es gerade, das Recht des Stärkeren?
Möllers: Das ist sicherlich ambivalent. Das Völkerrecht legt erst mal großen Wert auf die Stabilität von Grenzen. Das Völkerrecht ist, sag ich mal, sehr veränderungsresistent. Es möchte erst mal die Sachen so lassen, wie sie sind, in dem Bewusstsein, dass man alles zu schnell ändern könnte, es zu viele Konflikte gäbe. Und das hat sicherlich, das hat auch was. Das ist sicherlich ein wichtiger Aspekt.
Aber auf der anderen Seite ist klar, dass sich das Völkerrecht teilweise zu wenig vielleicht für Selbstbestimmungsfragen innerhalb von Staaten interessiert, und es auf der anderen Seite ganz oft doch irgendwie in dem Moment gebogen werden kann, in dem bestimmte Veränderungen eine starke Schutzmacht hinter sich haben. Man sieht einfach schon – Sie haben drei Konflikte beschrieben. Und die Lösung dieser drei Konflikte wird am Ende nicht einfach nur davon abhängen, dass die Leute sich selbst bestimmen können, die sie betrifft, sondern hängt auch davon ab, dass irgendjemand dahinter Druck macht. Für seine Eigeninteressen oder fürs Gemeinwohl, je nachdem.
Frenzel: Sie haben das Stichwort Selbstbestimmungsrecht genannt, also das Recht von Völkern, von Volksgruppen, zu sagen, wo sie hingehören möchten, in welchem Raum sie leben möchten. Das haben wir ja am Beispiel Kosovo, im Kosovo-Konflikt, als Westen ganz weit nach oben gestellt, und die territoriale Integrität, also den Staatsbestand Serbiens, relativ weit nach unten. Jetzt sehen wir das andersherum. Da gibt es natürlich viele, die sagen, na, wir biegen uns das auch zurecht, wie wir es gerade brauchen. Ist da was dran an dem Vorwurf?
"Das Misstrauen des Westens gegen die Krim-Abstimmung ist gerechtfertigt"
Möllers: Da ist sicherlich ein bisschen was dran. Ich würde auch sagen, dass man nicht – wenn man jetzt alle Konflikte sich anschaut –, nicht konsequent sagen kann, dass der Westen da immer sozusagen einheitliche Kriterien angelegt hätte, sondern natürlich auch immer seine eigenen Interessen verfolgt hat.
Auf der anderen Seite muss man vielleicht doch, was die Krim-Frage angeht, auch noch mal festhalten, dass wir natürlich von einer Bewegung, einer Selbstbestimmungsbewegung in der Krim vor dieser Krise ziemlich wenig gesehen haben. Man wird halt den Eindruck doch nicht los, dass diese Bewegung irgendwie auch von einer nicht zur Ukraine gehörenden Macht – in dem Fall Russland – induziert und irgendwie provoziert wurde. Insofern ist auch das Misstrauen des Westens gegenüber dieser Abstimmung, glaube ich, in der Sache schon gerechtfertigt.
Frenzel: Kann man denn eigentlich Grenzen friedlich verschieben? Gibt es dafür jüngere Beispiele, wo Sie sagen: Ja, das ist ein Weg, das ist sozusagen ein Muster, das man auch mal anbieten könnte?
Möllers: Das ist schwierig. Jetzt bin ich in dem Moment wirklich überfragt. Wenn man schon sagen muss, dass die Grenzen, die wir haben, sich bewährt haben, im Prinzip doch zu allermeist Grenzen waren, die wir nach Kriegen verändert haben. Also, man sieht schon, dass Länder sehr, sehr allergisch auf Verletzungen ihrer territorialen Integrität reagieren. Selbst wenn nicht so viel für sie vielleicht auf dem Spiel steht. Man denke an so etwas wie die Falklandinseln etwa. Da ist England sofort in den Krieg gezogen für eine kleine Insel, sehr weit entfernt eigentlich vom Mutterland. Also das passiert höchst selten, kann man, glaube ich, ganz ehrlich festhalten.
Frenzel: Mir fällt gerade jetzt, wo wir darüber reden, die Tschechoslowakei ein. Die könnte man vielleicht als Beispiel nehmen?
Möllers: Wobei man zweierlei eigentlich sagen soll. Das Erste ist, dass es höchst selten ist, dass solche Staaten sich friedlich in Föderationen auflösen. Das war für alle anderen natürlich auch angesichts der Tatsache, dass das während des – in gewisser Weise ja auch schon vor den Vorläufern des – Jugoslawien-Konflikts geschah, ein höchst erstaunliches, sehr, sehr eigenartiges vorbildliches, aber auch seltenes Ereignis. Und zum anderen ist es dann doch was anderes, ob man ein Land, das man hat, aufteilt in zwei Teile, oder ob man Grenzen gegenüber einem anderen außen verschiebt. Das ist dann doch noch mal konfliktträchtiger.
Frenzel: Herr Möllers, eine Frage zum Schluss, die ganz klein ist, aber wahrscheinlich ganz groß: Brauchen wir eigentlich Grenzen, oder machen sie uns am Ende nicht sogar mehr Probleme?
Möllers: Ich denke schon, dass wir Grenzen brauchen. Ich glaube schon. Das ist immer die Trivialität in den Kulturwissenschaften, die aber, glaube ich, schon stimmen: Man zieht sich halt auch Grenzen, um zu wissen, wer man ist. Es ist eine Sache, mit Grenzen falsch umzugehen, aber vielleicht doch eine andere, sie komplett aufzugeben.
Frenzel: Das sagt Christoph Möllers, Professor an der Humboldt-Universität. Ich danke Ihnen für Ihre Gedanken und für Ihre Zeit heute Morgen!
Möllers: Wiederhören!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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