Virtueller Rundgang durch verbotene Zonen

Von Jürgen Stratmann · 20.02.2006
"Zone Interdite" ist ein Netzkunstprojekt mit der Absicht, dem Betrachter Ansichten von Landstrichen zur Verfügung stellen, die ihm normalerweise nicht zugänglich sind. Auf digitalem Wege kann man so beispielsweise einen Rundgang im Gefangenenlager Guantanamo machen.
"Zone-interdite.net" – die Adresse ist Programm: das Netz der verbotenen Zonen. Ruft man die Seite der Schweizer Künstler Christoph Wachter und Matthias Jud auf, erscheint zunächst - blau das Meer, das Land in flächigen Grautönen - der Globus.

Aber während sich die Seite aufbaut, breitet sich, von Mitteleuropa ausgehend, ein Netz von stecknadelkopfgroßen, giftgrünen Punkten wie Pilzbefall epidemisch über die ganze Welt aus - bis man zuletzt das ganze Ausmaß überblicken kann.

Matthias Jud: "Es gibt über 1200 solcher Zonen auf der ganzen Welt – und es kommen täglich neue dazu"

Hier werden sie sichtbar: dicht konzentriert in den ehemaligen Blockstaaten Europas und den USA, dünn gestreut in den Weiten Afrikas, kaum vorhanden in Mittel- und Südamerika.

"Man hat die Möglichkeit, auf dieser Weltkarte zu navigieren, bestimmte Zonen heranzuzoomen und mit diesen grünen Punkten zu einzelnen verbotenen Zonen dann vorzudringen."

Das zurzeit wohl brisanteste unter den zahllosen Sperrgebieten: Guantanamo Bay, durch Fernsehbilder bekannt als öder Drahtverhau im Nirgendwo, in denen gebeugte Personen in orangen Overalls von Soldaten vor vergitterten Verschlägen abgeführt werden. Hier wird der Platz konkret auf der Weltkarte verortbar, bekommt eine Umgebung – und wenn man die grün leuchtende Landmarke im Südosten Kubas anklickt, holt man sich das Gelände in allen Einzelheiten auf den Schirm

"Jede verbotene Zone ist eine eigene Website, man hat Links, die weitergehen, man kann auch direkt über diese Webseite bei Google suchen und hat die Möglichkeit, diese Information dann auch wieder als Kommentar zu hinterlassen."

Einer dieser Links führt etwa auf die Seite eines US-Veteranen, der seiner Zeit auf dem Stützpunkt nachtrauert: er schwärmt vom bestirnten Himmel über der Bucht, vom Händchenhalten am nächtlichen Strand und dem Duft des Meeres - in einer Zeit, als Guantanamo noch ein unschuldiges Marine-Camp war.

"Ja, weshalb diese Seite interessant ist: das ist eine private Homepage, und als Hintergrund für seine Einstiegseite verwendet er ein Bild von Windmill Beach."

Windmill Beach, so heißt der Strand unterhalb des Lagers.

"Auf dieser Aufnahme sieht man am oberen Bildrand ein kleines Häuschen - das ist ein Wochenendhaus für Offiziere gewesen – und dieses Haus wurde dann später zu dem berühmten Lager 'Camp Iguana'"

Jenem Camp, in dem in Afghanistan festgenommene Kinder gefangen gehalten wurden. Wachter und Jud setzten das zufällig beim Googeln entdeckte Strandphoto zu anderen, offiziellen Aufnahmen des US-Militärs in Beziehung und konnten so die Lage des streng geheimgehaltenen Kinderlagers nachweisen. Und das ist das eigentliche Prinzip ihrer Vorgehensweise.

Christoph Wachter: "Wir haben keine Geheimnisse, die wir lüften können, wir sind keine Journalisten, die Recherche machen können vor Ort, aber wir stellen das Material eben so hin, wie wir das wahrnehmen könnten – ich habe nur die ganz offenen Quellen genommen, jeder kann diese Quellen offen aufrufen. Das ist der ganze Trick bei der Sache - es ist ein Geheimnis, das alle rausfinden könnten."

Seit sechs Jahren sammeln Wachter und Jud Bildmaterial über Verbotszonen im Netz. Jeder, der etwas hinzuzufügen hat, kann dies mit einer "add on"-Funktion auf der Seite verlinken...

"Das Ganze ist als 'Work in Progress' angelegt und ich glaube, diese Erweiterung ist noch lange nicht abgeschlossen."

Dabei geht es nicht primär darum, Einzelheiten der geheimen Plätze zu enthüllen.

"Wenn wir jetzt Zuschriften kriegen von Leuten und sagen: Ja, ich hab' da noch geheime Fotos oder so etwas, das interessiert uns eigentlich nicht."

Denn es geht ausschließlich um den Umgang mit verfügbarem Bildmaterial.

"Die Auseinandersetzung mit einem Wahrnehmungshemmnis: dass ich bestimmte Dinge nicht wahrnehmen sollte, gleichzeitig sehe ich sie aber, weil sie mir ständig vorgeführt werden – über Medien, über Propaganda der Armeen, die stellen sich da selbst dar."

Und so seien Bilder aus gesperrten Regionen immer zweckgebunden, manipulativ, drängten dem Betrachter ihre Perspektive auf. Erst, wenn man aus diesen Einzelperspektiven wieder ein Ganzes rekonstruiere, könne man sich ein eigenes Bild machen

"Das ist der Punkt: inwieweit sind wir souverän in der Wahrnehmung, inwieweit sind wir da selbst Herr unserer Sinn? Wir fügen Dinge zusammen, die da sind. Wir sind keine Spione. Wir nehmen nur lückenloser wahr!"

Beeindruckendes Ergebnis ihrer lückenlosen Wahrnehmung: ein virtueller Lager-Rundgang. Aus zahllosen Netz-Informationen haben Wachter und Jud ein detailliertes 3-D-Modell entwickelt, das von den Gelände- und Gebäude-Abmessungen bis hin zur Zellen-Ausstattung dem Zwinger an Kubas Küste originalgetreu nachempfunden ist.

Wie in einem Computerspiel kann der Betrachter sich frei auf dem weitläufigen Gelände bewegen. An den langen Maschendrahtzäunen entlang die Baracken abschreiten, sich in den Zellen oder Mannschaftsquartieren aufhalten oder auf einen der Wachtürme steigen und von dort aus das Lager und die Umgebung überblicken.

Aber man ist mutterseelenallein unter dem diffus grauen Sommerhimmel, der die trostlose Szenerie überspannt: das virtuelle Lager ist menschenleer – nicht ohne Grund. Die Interaktion mit virtuellem Personal würde ein Rollenverhalten des Besuchers festlegen und genau das soll vermieden werden

"Das wirklich Spannende ist, in verschiedene Rollen einzutauchen, verschiedene Perspektiven auszuprobieren, jetzt in diesem virtuellen Guantanamo. Diese Vorstellungswelt, die dann plötzlich noch mal greifbar und reflexierbar wird - und das ist dann hier das Interessante, dass dann hier die Fragen losgehen: wie hab´ ich mir das vorzustellen, wenn ich da Gefangener wäre - oder, wie hab´ich mir das vorzustellen, wenn ich da Wärter wäre."

Auch wenn das Netzkunstprojekt "Zone Interdite" auf digitaler Technik basiert – die Absicht, dem Betrachter Ansichten von Landstrichen zur Verfügung stellen, die ihm normalerweise nicht zugänglich sind, stehe ganz in der Tradition der Landschaftsmalerei.

"Die Welt wird wieder komplettiert – die weißen Flecken auf der Landkarte – die schwarzen Flecken in unserer Vorstellung, sie werden wieder gefüllt mit diesen Bildern, die ja eigentlich da sind."

Ob sich die Kunstabsicht dem normalen Besucher der Website nun vermittelt oder nicht: "Zone Interdite" schafft eben dafür ein Bewusstsein: dass die Bilder da sind und dass man sie finden kann!