Virtopsy - die unblutige Leichenschau

Von Marko Pauli · 04.10.2012
Ohne Aufschneiden des Körpers und teilweise effektiver als die traditionelle Variante: Mit der Virtopsy, der virtuellen Autopsie, experimentiert das Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Sie soll die klassische Obduktion vielleicht sogar einmal ersetzen.
"Quincy", "CSI Miami" oder auch der "Tatort" aus Münster ...

Boerne: "Hepatomegalie, initiale Zirrhose - bitte gleich mal auf die Waage."
Thiel: "Wie schaffen Sie das nur, jemanden, der Ihnen so nahe stand, einfach so zu zerstückeln."

... die Inszenierung in Fernsehserien hat die Rechtsmedizin und ihre Methoden bekannt gemacht. In der Realität ist eine neue hinzugekommen, die virtuelle Autopsie, kurz: Virtopsy. Per Computertomographie werden hier digitale Abbilder des Körperinneren erstellt, um sie dann in 3D auf dem Monitor untersuchen zu können. Im Rahmen einer Studie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, dem UKE, bei der 162 Verstorbene per Virtopsy nachuntersucht wurden, konnten bei 11 Prozent zusätzliche Diagnosen gestellt werden. Nicht nur deshalb verlangt die jahrhundertealte, klassische Obduktion nach Unterstützung durch die Virtopsy, so Dr. Axel Heinemann, leitender Oberarzt der Rechtsmedizin am UKE:

"Insbesondere kann man bei der Obduktion nicht wegdiskutieren, dass man beim Eingriff in den Körper selbst Dinge kaputt macht. Deswegen ist die Bildgebung ein Riesenvorteil. In einem unversehrtem Zustand kann ein Verstorbener damit untersucht werden."

Hinzu kommt, dass immer weniger Angehörige überhaupt bereit sind, beim Verstorbenen eine Obduktion durchführen zu lassen, womit wohl einiges unerkannt bleibt. Nicht so im untersten Stockwerk des Instituts für Rechtsmedizin am UKE, hier ist der Leichen-Aufnahmebereich, in dem Virtopsien, aber auch klassische Obduktionen stattfinden:

"Ja, wir sind jetzt hier im Kellerbereich, gehen am Sektionstrakt außen vorbei. Dabei kommen wir an einem Fenster vorbei, sozusagen ein Demofenster in den Sektionsraum. Ich schau mal einfach eben, was man im Moment dort sieht ... Ok, man hat jetzt hier eine Obduktion, da ist also ein Mensch wirklich eröffnet an der Körpervorderseite. Es liegen Organe frei auf dem Tisch. Nur dass Sie ungefähr wissen, wenn Sie gucken möchten."

Während Axel Heinemann von einem Kollegen darüber informiert wird, was bei dieser Obduktion entdeckt wurde, beschleicht den Besucher beim Anblick des offen liegenden Menschenkörpers das Gefühl, dass es für die Rechtsmediziner vielleicht auch einfach angenehmer sein könnte, so eine Autopsie bloß virtuell durchzuführen. Doch darum gehe es nicht, sagt Axel Heinemann:

"Wir sehen vor allem nicht das Atmosphärische, sondern ganz klar den diagnostischen Zusatznutzen. Wir können Dinge klären, die wir alleine mit der Obduktion nicht klären konnten. Beispiel ist immer wieder: Luft- und Gasansammlung im Körper. Daran kann man sterben, wenn zum Beispiel Luft eingedrungen ist, wo sie nicht eindringen soll, zum Beispiel über Schläuche, die eingeführt wurden."

Während andere Dinge heute noch besser bei der klassischen Obduktion sichtbar sind, kleine Verletzungen unter der Oberfläche der Haut etwa, ist Luft oder Gas nur schwer zu erkennen:

"In dem Moment, wo man den Körper öffnet - war da vorher Gas drin oder Luft, das weiß man nicht. Jetzt ist es ganz wunderschön zu sehen in der Bildgebung. Man kann so Tötungsdelikten auf die Spur kommen. Denn es gibt da leider auch fürchterliche Berichte aus der Vergangenheit, dass teilweise aus Mitleidsgefühl Pfleger Serientötungen vorgenommen haben. Oder auch Behandlungsfehler, wo Luft eintritt bei OPs ins Gefäßsystem."

Nach den blutigen Eindrücken von eben ist der Anblick der verstorbenen Person im Virtopsy-Labor geradezu erholsam - bis auf Hände und Füße zugedeckt und den Konturen nach unversehrt, liegt sie auf einer Bahre und soll gleich durch den Computertomographen gefahren werden, der optisch an einen überdimensionalen Plastikring erinnert:

"Es dreht sich eine Röntgenröhre um den Patienten spiralförmig herum. Gegenüber der Röntgenröhre befindet sich eine Detektorreihe. Und dann kommt es per Software-Programm zur Rekonstruktion des Körperinneren. In der Rechtsmedizin, bei Unfällen, muss man den ganzen Körper aufnehmen, um wirklich alle Knochenbrüche zum Beispiel zu entdecken, bei Autounfällen etwa. Wenn's um die Frage geht, Fußgänger, kam der von rechts oder links, ging der über die Straße, war das vorhersehbar für den Autofahrer."

Per Mausklick kann jeder Knochen, jedes Organ von allen Seiten betrachtet werden. Facharzt für diese Bilder ist der Radiologe Professor Hermann Vogel. Ein Kripobeamter kommt herein und möchte zu einem bestimmten Fall etwas von ihm wissen:

"Der Verstorbene ist nach einer zweiten OP verstorben. Jetzt ist die Frage aus staatsanwaltlicher Sicht, ob es da irgendwelche Verfehlungen gab."

Professor Vogel holt per Mausklick die Virtopsy-Bilder des betreffenden Patienten auf den Monitor:

"Also: Ich sehe keine Blutung, keine Schere oder sonstiges Material, was im Bauchraum vergessen worden ist. Nichts, was auf eine ungenügende Naht oder Verletzung von Darm oder anderen Organen hinweist. So dass ich einen Fehler der Operateure nicht wahrscheinlich machen kann."

Polizist: "Genau so geben wir das weiter."

Durch die virtuelle Autopsie würden aber nicht nur unblutig Todesursachen aufgedeckt, auch neue Herangehensweisen für die in der Klinik tätigen könnten entwickelt werden, so Hermann Vogel:

"Weil bei uns die Befunde ausgeprägter sind, und in der Klinik sie Ausnahmefälle darstellen. Und dann können die Kollegen, die die Diagnostik durchführen oder sowas behandeln müssen, mit den Erkenntnissen, die sich hier gemeinsam erarbeiten lassen, diese oder jene Therapie entwickeln."

Die Kosten einer Virtopsy liegen noch vergleichsweise hoch, doch werden sie wohl sinken, wenn sie erst zur Routineprozedur geworden ist. Sie könnte dann nicht nur Obduktionen ergänzen, vielleicht sogar irgendwann ersetzen, sondern auch anstelle der großen Menge an äußeren Leichenschauen stattfinden, wie sie etwa vor Feuerbestattungen Pflicht sind, bei der der Rechtsmediziner heute bloß von außen beurteilen kann, ob Merkmale einer nicht natürlichen Todesursache vorliegen. Aber auch hier ginge es darum, durch Virtopsien zu mehr wertvollem Wissen für die Allgemeinheit zu gelangen, so Axel Heinemann:

"Man will ja vom Tod fürs Leben lernen - gibt's sogar auf Latein: Mortui vivos docent, die Toten lehren die Lebenden."

Was sicher auch ein Antrieb für Professor Boerne aus dem Münsteraner Tatort ist:

Boerne: "Die Suche nach der Wahrheit muss immer einen höheren Stellenwert haben als persönliches Befinden. Ich bin Wissenschaftler."