Virologe mahnt zur Schweinegrippe-Impfung

Professor Volker ter Meulen im Gespräch mit Ernst Rommeny und Ulrich Ziegler · 02.01.2010
Der Virologe Volker ter Meulen hält eine Impfung gegen den H1N1-Erreger für erforderlich. Es sei nur eine Frage der Zeit, bis sich das Virus verändere, sagte ter Meulen.
Deutschlandradio Kultur: Die neue Grippe H1N1, auch Schweinegrippe genannt, erweist sich bislang als relativ harmlos. Jetzt fragen wir Sie als Virologen: Haben wir einfach Glück gehabt oder hat die Medizin die Gesundheitspolitiker falsch beraten?

Volker ter Meulen: Nein, wir haben Glück gehabt. Das Virus ist ein Virus, das die Potenz hätte sich zu verändern. Alle Influenzaviren können sich verändern aufgrund einer Reassortierung, das heißt, einer Vermischung mit anderen Influenzaviren. Wir wissen ganz genau, dass dieses Virus auf zwei Genen die Potenz hat, einmal pathogener zu werden, das heißt, die Lunge wirklich zu erfassen und dann schwerste Erkrankungen hervorzurufen bzw. resistent zu werden gegen Tamiflu, die Substanz, die man benutzt als Neuraminidase-Hemmer. Und das ist nur eine Frage der Zeit, dass dieses Virus sich verändert. Das kann kurzfristig sein. Das kann auch länger dauern, aber irgendwann wird es kommen. Und deswegen ist es gut, dass die Bevölkerung sich impfen lässt.

Deutschlandradio Kultur: Aber Sie haben doch jetzt ein Problem. Jetzt glauben alle, das sei ein Fehlalarm gewesen. Man habe sogar aus dem Bauchgefühl heraus richtig reagiert, wenn man sich nicht hat impfen lassen. Und die wissenschaftliche Beratung steht ein bisschen dumm da.

Volker ter Meulen: Überhaupt nicht, ich sehe das ganz anders. Sehen Sie, ich bin Virologe, bin von Hause aus Kinderarzt gewesen. Ich weiß, wie gut die Impfungen sind. Stellen Sie sich vor, wir hätten keine Impfung gegen Masern, gegen Röteln, gegen Pocken etc. Wie schlecht ständen wir da? Die Wissenschaft hat darauf hingewiesen, dass es hier sinnvoll ist, sich zu impfen, weil dieses Virus sich jederzeit verändern kann. Und diese Kurzfristigkeit, die wir in unserem Denken haben, die wir im täglichen Leben haben, die ist einfach hier nicht zielführend. Sondern vollkommen richtig, man muss so beraten.

Die Impfungen sind sinnvoll. Die Impfungen sollten auch sein. Stellen Sie sich vor, wenn jetzt die Impfstoffe wieder verkauft werden, wie man aus der Presse liest, nach Modawien oder Ukraine etc., und im Frühjahr geht es wieder los und wir haben dann ein pathogeneres Virus. Dann wird die Bevölkerung aufschreien und sagen, wo bleibt der Impfstoff, ich möchte mich doch gerne impfen lassen.

Sie haben ja selbst erlebt, in den Talkshows wurde das alles klein gemacht. Wie die ersten Toten kamen, standen die Leute Schlange und hatten keinen Impfstoff. Dieses schnelle Denken, diese Kurzfristigkeit ist eben nicht angezeigt bei Infektionskrankheiten. Viren nehmen darauf keine Rücksicht.

Deutschlandradio Kultur: Aber da müssen Sie uns mal erklären, warum doch ein Teil der Ärzte immer gesagt hat, ja, sie wären sich nicht so ganz sicher, ob das mit der Impfung wirklich Sinn mache - ein Großteil der Ärzte. Und Sie sagen, ja, machen Sie das. Aber die Signale, die in der Öffentlichkeit waren, waren immer auch von der Ärzteschaft unterschiedlich.

Volker ter Meulen: Was heißt hier "Ärzteschaft"? Sie interviewen dann einige Kollegen, die sind dagegen. Andere sind dafür. Es gibt ja auch Kollegen, die absolut gegen jede Impfung sind. Die sagen: Man muss jedes Virus durchleben. Survival of the fittest - der Gute hält's aus, der andere hält nichts aus, das Immunsystem. Man muss sich mit dem auseinandersetzen. Das sind alles Ansichtssachen. Aber es gibt klare wissenschaftliche Erkenntnisse. Und die sind letzten Endes zielführend und die richtigen.

Deutschlandradio Kultur: Dann kommt die Keule und dann wird gesagt: Die Wissenschaft habe eine gewisse Nähe zur Pharmaindustrie und darum haben wir jetzt so viel Medikamente auf Lager.

Volker ter Meulen: Ach, das ist eine absolute Unterstellung. Also, wissen Sie, wenn Sie sich dieses ARD-Fernsehinterview in der Talkshow von Herrn Plasberg angehört haben mit der ‚Neurodermitis und der Salbe’ und dieses sich vor Augen führen, was da abgelaufen ist, das ist doch unerträglich. Man muss es doch mal sachlich und fachlich sehen. Also, ich finde diese ewigen Unterstellungen einfach absurd.

Deutschlandradio Kultur: Dann halten wir noch mal fest: Wenn wir uns heute impfen lassen, dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass – wenn dieser Schweinegrippevirus auch in veränderter Form in wenigen Monaten wieder auftritt – wir besser durch die Krise kommen?

Volker ter Meulen: Ja, selbstverständlich. Ich weiß nicht, ob Sie beide geimpft sind. Ich habe mich impfen lassen. Wenn Sie jetzt geimpft wären, dann hätten Sie Schutz gegen dieses Virus und würden nicht erkranken.

Deutschlandradio Kultur: Aber das Spannendere, das haben Sie eben auch erwähnt, ist das nicht, dass wir Medikamente haben gegen schwere Grippefälle, aber diese Medikamente, obwohl sie relativ neu sind, verlieren sehr schnell ihre Wirkung. Nach der nächsten oder übernächsten Grippewelle, Sie haben es ja eben auch erwähnt, könnte es sein, dass diese Medikamente gar nicht mehr zur Verfügung stehen. Sind wir dann schutzlos auf einmal?

Volker ter Meulen: Ja, das hängt damit zusammen, das ist Evolution. Das ist gelebte Evolution. Viren adaptieren sich an ihren Wirt. Viren adaptieren sich an ihre Umwelt. Und es ist klar, wenn der Druck erhöht wird auf das Virus, dass es nicht überleben kann, dann ändert es sich. Und dann wird dieses Virus nicht mehr behandelbar sein mit Tamiflu. So, wie sie Bakterien auch nicht mehr behandeln können mit Antibiotika – gewisse Erreger. Wir haben ein Riesenproblem in der Medizin, dass eine ganze Reihe von Bakterien resistent sind gegen Antibiotika. Und wenn Sie sich vorstellen, dass in den letzten 20 Jahren nur zwei neue Antibiotika von der Industrie entwickelt wurden, weil das so schwierig ist, diese Medikamente zu entwickeln, dann können Sie sehen, welches Riesenproblem wir haben.

Deutschlandradio Kultur: Sie sind ja Vorsitzender des Rates der europäischen Nationalakademien der Wissenschaft. Die hat sich mit Tuberkulose beschäftigt. Warum denn gerade dieses Thema, das wir als erledigt betrachten in Deutschland, während wir uns aufregen über die Grippe?

Volker ter Meulen: Infektionserreger kennen ja keine Grenzen. Die kennen kein Schengenabkommen, die wandern so, wie es ihnen passt. Und wir werden die Erreger nie los. Sie können zwar Pocken eliminieren, weil für Pocken der Wirt der Mensch ist. Und wenn Sie sich vorstellen, dass Sie zum Beispiel Masern eliminieren könnten, weil auch dort der Mensch das einzige Reservoir ist, aus dem der Erreger kommt, dann können Sie die Hoheit über diese Erreger erzielen durch Impfung. Bei Tuberkulose ist das nicht der Fall, sondern Tuberkulose infiziert auch andere Lebewesen. Tuberkulose ist ein sehr komplexer Erreger, der sehr schwer zu bekämpfen ist, der ja auch in uns, in den Älteren - ich bin ja älter als Sie - einfach überwintert und jederzeit wieder losbrechen kann.

Und diese Erreger haben die Fähigkeit Resistenzen zu entwickeln. Und wir haben jetzt TB-Erkrankungen, die wir zum Teil nicht behandeln können, dadurch bedingt, dass – wenn das auf ein Immunsystem stößt, was geschwächt ist, wie zum Beispiel bei HIV oder AIDS – dann entwickelt sich eine Erkrankung, die nicht mehr beherrschbar ist. Und wir haben große Sorge, dass diese Erreger, die aus Afrika kommen und die aus dem Osten kommen zu uns, nicht mehr zu behandeln sind, was große Probleme schafft.

Deutschlandradio Kultur: Kann es auch sein, dass aufgrund des Klimawandelns wir möglicherweise künftig mit Infektionserregern konfrontiert werden hier in Europa, mit denen wir heute noch gar nicht zu tun haben?

Volker ter Meulen: Das ist eine berechtigte Frage. Die Leopoldina hat gerade ein internationales Symposion abgehalten in Greifswald mit der Indischen Akademie der Wissenschaften zum Thema "Climate change and infectious diseases". Und es ist vollkommen klar, es gibt jetzt Zoolosen, zum Beispiel Blue-tongue-disease, also Blaue-Zunge-Erkrankung bei Rindern, die ist noch nie in Europa gesehen worden. Die kommen jetzt. Deutschland ist befallen. England ist befallen. Das heißt, es kommt ein Wandel. Oder die Chicken-Gunya-Virus-Infektion in Italien ist aus Afrika gekommen, war vorher auch nicht da. Das heißt, es gibt eine Wanderung von Erregern in Abhängigkeit vom Klima. Wenn es wärmer wird, werden wir auch Erkrankungen wieder bekommen, die wir vorher nicht gehabt haben bzw. die schon mal da waren. Denken Sie an Malaria. Auch das könnte sich wieder bei uns entwickeln in Abhängigkeit von der Klimaveränderung.

Deutschlandradio Kultur: Die Leopoldina hat ja als deutsche Nationale Akademie der Wissenschaften so vier Themenschwerpunkte - Ökologie, Bildung, Energie und eben auch Gesundheit, wie wir es eben besprochen haben. Und immer scheint der Klimawandel so ein verbindendes Element zu sein. Ist das gemeint, dass wir im Grunde in verschiedenen Themen von ein und derselben Sache sprechen?

Volker ter Meulen: Das glaube ich nicht, sondern wir leben ja in einer Umwelt und die Umwelt prägt uns. Und die Umwelt bestimmt auch unser Leben. Und wenn also Umweltveränderungen auftreten, dann geht das einher mit Veränderungen in der Gesundheit, mit Veränderungen von Erkrankungen, so wie Infektionskrankheiten. Wenn Sie sich vorstellen, welche Veränderungen wir haben im Klimawandel, welche Probleme wir im Energiebereich haben, dann ist das Teil der aktuellen Themen, die uns alle betreffen. Und eine Akademie ist gut beraten, diese Themen aufzugreifen. Denn – sehen Sie – die Mitglieder einer Akademie sind ja Mitglieder der Gesellschaft. Und das, was die Gesellschaft interessiert, interessiert natürlich auch die Mitglieder einer Akademie.

Deutschlandradio Kultur: Aber Sie müssen ja Schwerpunkte setzen, weil sie versuchen in die Zukunft zu blicken und zu sagen, das werden die zentralen Themen sein, mit denen sich die Menschen in Europa oder in der Welt auseinandersetzen müssen. Sie entscheiden sich schon für das Thema Klima, weil das die Schlüsselaufgabe ist. Oder haben wir das falsch verstanden?

Volker ter Meulen: Nein, ich würde so sagen: Wir entscheiden uns für Themen, die von großer gesellschaftlicher Relevanz sind, die vor allen Dingen eine wissenschaftliche Basis haben.
Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Wenn Sie sehen, wie wir in der modernen innovationsgetriebenen Gesellschaft mit Themen konfrontiert werden, sei es zum Beispiel die Molekularbiologie, die Grüne Gentechnik oder die synthetische Biologie, dann versuchen wir diese Themen aufzugreifen, diese Themen aus Sicht der Wissenschaft darzulegen und zu erklären, damit von Anfang an eine sinnvolle und orientierte Diskussion stattfinden kann. Wenn ein Thema erst wirklich die sozusagen Yellow Press erreicht hat und man sich gegenseitig nur Vorwürfe macht, ist es sehr schwer, überhaupt noch aufklärend tätig zu sein.

Deutschlandradio Kultur: Aber bei der Grünen Gentechnik sind Sie doch in erster Linie unterwegs in eigener Sache. Ihnen gefällt das Gesetz nicht und Ihnen gefällt die Forschungsbeschränkung nicht.

Volker ter Meulen: Also, Forschung ist ja laut Grundgesetz bei uns frei. Und wenn Sie mal rückblickend Deutschland sich anschauen, so gibt es bei uns immer sehr große Vorbehalte gegenüber Innovationen. Gehen Sie mal zurück in die Siebzigerjahre. Wie es möglich war zum Beispiel, menschliches Insulin in Bakterien zu produzieren, da hat die Gesellschaft rebelliert, vor allen Dingen aber die Politik rebelliert. Das Ganze war ausgegangen von Hessen aus. Die Firma Hoechst hatte damals als Erste noch in der Welt die Fähigkeit gehabt, großtechnisch so was herzustellen. Das heißt, das Genom des menschlichen Insulins in Bakterien einzuschneiden und dann diese Produktion aufzugreifen, um wirklich humanes Insulin herzustellen. Das wurde vereitelt. Die Firma Hoechst konnte nicht in die Produktion eintreten.

Es hat über zehn Jahre gedauert, bis die Genehmigung erteilt wurde. In der Zwischenzeit hat die Firma Lilly in Straßburg dieses menschliche Insulin produziert und den deutschen Markt damit bedient. Und die Menschen haben alle das humane Insulin genommen, auch die, die immer dagegen waren, dass das des Teufels ist. Denn wenn Sie Diabetiker sind, dann möchten Sie das beste Insulin haben und fragen nicht danach, ob es politisch opportun oder nicht opportun ist.
Das zeigt also, dass wir – und da kann ich Ihnen auch andere Beispiele nennen – ein Riesenproblem haben in Deutschland, Innovationen zu erkennen und die aufzugreifen. Wir sind immer bereit, dass andere Länder das erst entwickeln. Und wenn es dann wirklich perfekt ist, dann sind wir bereit es zu kaufen, vorausgesetzt, wir haben das Geld in der Zukunft noch, das alles zu bezahlen.

Deutschlandradio Kultur: Also, wenn Insulin, wie Sie es beschrieben haben, eine Erfolgsgeschichte war, würden Sie sagen, in Zukunft müssen wir verstärkt bei Grüner Gentechnik genverändertes Saatgut auch in Freilandversuchen einbringen, damit wir Ernährungsprobleme lösen können, damit wir Resistenzen bilden gegenüber Bakterien etc. Ist das sinnvoll und können wir uns das überhaupt leisten?

Volker ter Meulen: Man muss es immer differenziert sehen. Sehen Sie, man muss nicht wieder nur pauschal anfangen und sagen, alles ist gut, was man in der Grünen Gentechnik macht. Aber es gibt doch sehr sinnvolle Versuche, die dort durchgeführt sind. Sehen Sie, man fängt da jetzt schon an, dass man hingeht und in der Lage ist, überhaupt in Pflanzenzellen Veränderungen herbeizuführen, ohne dass man fremde Gene einschleusen kann. Es gibt moderne Methoden, die kürzlich entwickelt worden sind, die es ermöglichen werden in Zukunft, dass man gar kein Fremd-Gen mehr einschleust, sondern dass man die Gene, die einem nicht passen, ausschaltet. Das heißt, wir haben die Möglichkeit, vieles zu erreichen.

Und was spricht dagegen, dass wir die Forschung betreiben? Was spricht dagegen, dass wir die Freilandversuche machen in entsprechender verantwortbarer Art und Weise? Das ist doch das, was sinnvoll ist. Und sehen Sie, wir leben doch alle von Innovationen. Eine moderne Gesellschaft kann ja ohne technischen Fortschritt und Innovation nicht überleben. Das geht doch gar nicht. Und immer zu hoffen, dass das Ausland es macht und wir einen Exodus von Wissenschaftlern bekommen und wir auch produzierende Bereiche verlieren, das kann es doch wohl nicht sein.

Deutschlandradio Kultur: Aber das, was Sie jetzt ansprechen, ist ja eigentlich nicht behindert oder verboten. Klassische Pflanzenzüchtung mithilfe der Steuerung durch die Genforschung ist ja nicht behindert in Deutschland.

Volker ter Meulen: Ja, aber was spricht dagegen, dass wir zum Beispiel hingehen und Sie haben eine Pflanze, wie zum Beispiel diese Stärkekartoffel, die jetzt in der Lage ist, Stärke zu produzieren, die Sie dann nicht für den Verzehr nehmen? Sehen Sie, wenn Sie hingehen würden und würden sämtliche Lebensmittel bezeichnen, ob sie gentechnologische Veränderungen enthalten oder nicht, dann müssten Sie 70 Prozent aller Lebensmittel bezeichnen.

Medikamente, die Sie bekommen, ein Großteil ist ja abhängig von Gentechnologie. Sie haben die rote Gentechnologie. Die ist akzeptiert. Ich kann mich noch gut dran erinnern an die Zeit, wie das auch verteufelt wurde. Also, die Schwierigkeit, die wir haben bei uns, ist, das rüberzubringen und die Bevölkerung aufzuklären und zu sagen, was ist gut und was ist nicht gut aus der heutigen Sicht. Was soll man machen? Wo müssen wir noch weiter forschen? Das ist doch das, was wir brauchen.

Deutschlandradio Kultur: Wenn Sie sagen, man muss es rüberbringen an die Menschen, wo setzen Sie an? Gehen Sie rein in die Politik und versuchen über die Politik Mehrheiten für Ihre Vorstellungen zu finden? Oder machen Sie Öffentlichkeitsarbeit auf breiter Form, dass Sie hoffen, die großen Blätter werden genau das dann schreiben, was Sie sich auch vorgestellt haben?

Volker ter Meulen: Also, was wir ja nur machen können aus Sicht der Wissenschaft, ist, erstens sachlich zu berichten, in einem sachlichen Bericht das Pro und Kontra aufzuzeigen, in einem derartigen Bericht auch darzulegen, welche Gegenmeinungen es gibt, die dann zu bewerten und dann eine Schlussfolgerung draus zu ziehen und das dann der Politik und der Öffentlichkeit, also auch der Gesellschaft, zu präsentieren. Mehr können wir nicht tun. Wir sind keine Lobbyisten. Wir werden jetzt nicht hingehen und werden jetzt versuchen, dieses durchzusetzen, sondern das ist Aufgabe des Souveräns. Das muss der Souverän machen. Mehr können wir nicht tun.

Wenn Sie sich heute einen Bundestag ansehen und wenn Sie sehen, was der für ein Programm zu absolvieren hat an Gesetzesvorlagen, die bearbeitet werden müssen, dann ist es vollkommen klar, dass nicht jeder, der dort abstimmt, eigentlich im Detail genau weiß, worum es eigentlich geht.

Deutschlandradio Kultur: Aber haben Sie vielleicht eine Sonderstellung aufgrund Ihrer Institution, der Akademie, dass Sie mehr gehört werden? Es gibt 600 Berater allein oder wissenschaftliche Institute in Berlin, die alle versuchen Politik zu beraten.

Volker ter Meulen: Also, wir sind ja kein wissenschaftlicher Beirat eines Ministeriums, sondern wir sind eine absolut unabhängige Institution. Und ich glaube, es wäre gut, in diesem Moment mal ins Ausland zu schauen und sich anzuschauen, wie macht das das Ausland? Wir müssen das Rad ja nicht neu erfinden. Wenn Sie sich ansehen, es gibt ja herausragende Akademien, wie die Royal Society in London, die Academie de Science in Paris oder die National Academies in USA. Nun sind das Institutionen, die seit langem schon wissenschaftsbasierte Politik- und Gesellschaftsberatung durchführen, und zwar auf sehr hohem Niveau, ganz selektiv. Die suchen sich die Themen aus, diese Akademien, die sie für relevant halten. Und zu diesen Themen äußern sie sich.

Eine Akademie, wenn eine Anfrage kommt aus der Politik zum Beispiel, kann sagen, wir machen das oder wir machen es nicht. Wir sind absolut frei. Wenn sie wissenschaftlicher Beirat eines Ministeriums sind, dann kriegen sie die Aufgaben zugewiesen und sie werden die Aufgaben erledigen. Sie weigern sich auch nicht, sie machen das einfach. Natürlich hat jede Gruppierung ihre Eigendynamik und hat natürlich auch das Recht, es zu tun. Und wenn Sie in einem wissenschaftlichen Beirat sind, ich war in vielen wissenschaftlichen Beiräten, ist es vollkommen klar, dass Sie versuchen, das Beste zu erarbeiten.

Aber bei uns ist es anders. Wir sind absolut unabhängig. Es gibt im Grunde keine so unabhängige Institutionen wie die Akademien. Das kann man im Ausland sehr gut sehen. Und ich denke, das ist ein Plus, was wir haben, sodass wir wählen können, ob wir die Aufgabe, die uns angeboten wird, übernehmen oder nicht übernehmen, sodass wir uns die Themen frei wählen können, für die wir glauben es notwendig wäre, eine Stimme zu erheben.

Deutschlandradio Kultur: Mir ist aufgefallen, wenn ich Ihre Stellungnahmen gelesen habe, zumindest die Zusammenfassungen, dass Sie von Mal zu Mal unterschiedliche Töne anschlagen. Gerade die Stellungnahme über die grüne Gentechnik kommt, ich sage es mal im alten Stil, sehr von oben herab. Man sagt da, man sei "nicht blind für Risiken", das war es aber. Und derjenige, der das liest, fühlt sich akademisch abgespeist.

Volker ter Meulen: Nehmen wir mal Grüne Gentechnik. Da steht in der Fußnote, dass die Deutsche Forschungsgemeinschaft eine große Publikation in Druck hat. Die ist erschienen in der Zwischenzeit. Die sind ungefähr 70 bis 80 Seiten. Da ist alles im Detail aufgeklärt. Unsere Idee war, mit dieser Stellungnahme der Nationalen Akademie der Wissenschaften in Kooperation mit anderen Akademien auf drei Seiten prägnant das herauszuarbeiten, was sozusagen eine Zusammenfassung darstellt von wichtigen Erkenntnissen. Und wir verweisen dann auf die Literatur, die man sich besorgen kann. Wenn Sie ein Opus publizieren von 70 Seiten, dann sind die meisten überfordert und haben gar nicht die Zeit, sich das durchzusehen. Also, das war doppelgleisig gefahren. Und ich denke, das ist alles gut dokumentierbar.

Natürlich ist es richtig, wenn Sie sagen, Sie wollen eine umfassende Studie haben, dann wird es ein großes Werk. Wir haben zum Beispiel publiziert "Eine alternde Gesellschaft". Da haben wir dreieinhalb Jahre dran gearbeitet. Das ist unterstützt worden von der Jacobs-Stiftung aus der Schweiz. Da haben 25 Wissenschaftler sich sozusagen in Klausur begeben und haben heftigst sich damit auseinander gesetzt. Das ist ein Empfehlungsband plus acht Materialbände. Das ist so ein Opus. Das ist sehr umfassend. Und dann müssen Sie daraus wieder eine kurze Zusammenfassung machen, damit man sozusagen die Message herüberbringt, um dann diejenigen zu erreichen, die wir erreichen wollen.

Deutschlandradio Kultur: Wann hört eigentlich die Politik auf die Wissenschaft? Sie haben gute Argumente. Dann kommt Herr Seehofer, Frau Eigner oder Herr Söder und sagen, das mag ja alles so sein, aber wir wollen die Wahlen gewinnen. Und die gewinnen wir nur, wenn wir ökologischen Anbau den Leuten versprechen und dann machen wir das so – jenseits dessen, was Sie ihnen empfehlen. Das muss doch frustrierend sein.

Volker ter Meulen: Nee, ist überhaupt nicht frustrierend. Das ist doch Demokratie. Sie müssen doch die Spielregeln der Demokratie akzeptieren.

Deutschlandradio Kultur: Dann fangen Sie wieder an – Sisyphus.

Volker ter Meulen: Nein, wir sind doch nicht der Souverän. Der Souverän hat doch die Verantwortung. Wir können doch nur drauf hinweisen. Ich denke, wir können drauf hinweisen, wir können die Politik versuchen zu informieren. Und wir versuchen die Gesellschaft zu informieren. Und dann hoffen wir, dass die Presse unsere Argumente aufgreift. Und dann kann sich die Presse mit den Argumenten auseinandersetzen. Und am Ende hat dann die Demokratie es selbst in der Hand, was sie macht. Mehr können wir doch nicht machen. Wir sind doch nicht diejenigen, die dann sagen, wir entscheiden über alles. Das ist ja nicht unsere Verfassung.

Deutschlandradio Kultur: Nun hatten wir vor Weihnachten den Kopenhagener Klimagipfel. Er ist zu großen Teilen enttäuschend verlaufen. Heißt das, dass wir sehr viel Zeit haben?

Volker ter Meulen: Nein, wir haben nicht viel Zeit. Nur muss ich sagen, ich bin kein Klimaforscher. Ich kann also Ihnen nur das sagen, was Sie auch wissen. Ich beschäftige mich mit dieser Thematik nicht wissenschaftlich. Aber ich denke schon, dass es notwendig ist, dass wir was unternehmen – unabhängig, ob nun das CO2 der entscheidende Faktor oder nicht der Faktor ist. Die Produktion von anthropogenem CO2 ist so gewaltig, dass das auf jeden Fall Nachwirkungen hat und wir versuchen müssen, was zu tun. Aber das zeigt natürlich, dass Politik anders funktioniert als die Wissenschaft.

Deutschlandradio Kultur: Deshalb noch mal zugespitzt die Frage: Wie finden Sie Übersetzer? Wann sind die kleinen Fenster offen, wo Sie tatsächlich einsetzen können und sagen, ja, wir sind sehr erfolgreich? Was muss man da tun?

Volker ter Meulen: Nehmen Sie die Grüne Gentechnik und nehmen Sie den Koalitionsvertrag, dann können Sie sehen, dass Teile von unserer Stellungnahme übernommen worden sind im Koalitionsvertrag. Ob das nun umgesetzt wird nachher in die wahre Politik, weiß ich nicht. Aber wenn Sie versuchen wollen festzustellen, was erreicht man, was erreicht man nicht, so müssen wir uns freimachen davon, dass wir unsere Relevanz und unsere Existenz davon abhängig machen, ob das, was wir sagen, übernommen wird oder nicht. Das ist doch nicht machbar in einer Demokratie.

Eine Demokratie ist eine Mehrheitsentscheidung. Sie können nur versuchen zu informieren und aufzuklären. Mehr können Sie nicht machen. Wenn dann Leute sich nicht impfen lassen, dann lassen sie sich nicht impfen. Wenn Sie dann erkranken und sterben ist es ihre persönliche Entscheidung. Schlimm wird es nur, wenn man dann die Impfung Kindern vorenthält, ja. Denken Sie an die Poliomyelitis. Aus meinem eigenen Forschungsbereich kann ich Ihnen sagen, das ist eine Katastrophe, wenn die Eltern ihre Kinder nicht impfen lassen gegen die Kinderlähmung. Und dann machen sie eine Reise mit ihren Kindern in Biotope, in die man normalerweise nicht geht.

Und sie kommen zurück und da ist das Pech da, dass das Kind die Kinderlähmung bekommt und entweder stirbt bzw. dann eine Lähmung bekommt. Wenn man das für sich selbst entscheidet, gut, á la Bonheur. Aber wenn Sie das für eine dritte Person entscheiden, ist es was anderes. Das heißt, aufklären können wir und wir können drauf hinweisen. Aber wir können das nicht durchsetzen.

Deutschlandradio Kultur: Aber in der Klimaforschung zum Beispiel ist ja aufgeklärt. Die Politik, die Öffentlichkeit muss starten, das Klimarettungsprogramm in Bewegung setzen. Da haben Sie doch als Wissenschaftler gar nichts mehr zu sagen, weil Sie bereits Ihren Teil dazu beigetragen haben.

Volker ter Meulen: Ja, so ist es doch, richtig. Natürlich, ist eine Demokratie. Jetzt kommt es drauf an in Amerika, ob der Kongress und ob der Senat die entsprechenden Entscheidungen trifft. Das sind die Politiker. Sie als Journalist können doch auch nur versuchen, auf die Gesellschaft einzuwirken mit Ihren Informationen, die Sie haben. Ob die dann umgesetzt werden von der Gesellschaft, ist doch eine andere Sache.

Deutschlandradio Kultur: Und wie sieht das jetzt aus? Sie zum Beispiel beschäftigen sich mit der Energieforschung. Ist das wirklich dann ein hilfreicher Ratschlag, dass wir unsere Energieforschung verändern, um zu einem besseren Klimaschutz zu kommen?

Volker ter Meulen: Nein, es ist so: Ich denke mal, die Forschung ist ja ein Aspekt, der ja die Grundlage für unsere Existenz einer modernen Industriegesellschaft ist. Die Energieforschung ist ein wichtiger Aspekt. Nun ist es ja so, dass die Energiebenutzung sehr von politischen Vorstellungen abhängt. Ob sie mehr fossile, ob sie mehr Kernenergie, ob sie glauben an Fusionsenergie irgendwann, ob sie meinen, das muss alles alternativ sein, das sind alles Fragen, die eine Gesellschaft miteinander diskutiert, um einen entsprechenden Kompromiss zu finden.

Voraussetzung ist aber, dass Sie Forschung haben. Und so haben wir zum Beispiel in unserem strategischen Konzept für eine Energieforschung der Bundesrepublik darauf hingewiesen, dass es unabhängig von der politischen Einstellung Forschungsbereiche gibt, die einfach essenziell sind. Und wir haben das "No-Regret-Research" genannt. Das heißt, eine Forschung, die immer durchgeführt werden muss, wenn eine Gesellschaft überleben will. Also, selbst wenn Sie gegen Kernenergie sind, brauchen Sie Leute, die sich mit Kernenergie auskennen. Denn wir haben den ganzen Atommüll, mit dem wir fertig werden müssen.

Das heißt, wir haben die ganzen Sicherheitsauflagen. Sie müssen natürlich Leute finden, die bereit sind, sich ausbilden zu lassen, die bereit sind noch Physik zu studieren und diesen Bereich als ihren Kernbereich ansehen. Wenn das alles verteufelt wird, finden Sie keinen jungen Menschen mehr, der das macht. Das heißt, es ist notwendig, dass eine Industriegesellschaft wie die Bundesrepublik wirklich in der Lage ist, eine breite Energieforschung durchzuführen.
So, jetzt können Sie bei uns feststellen, dass wir in der Forschungsförderung ja eine ganze Reihe von Ministerien haben, die das machen. Es wäre aus unserer Sicht viel besser, man würde das bündeln. Es wäre aus unserer Sicht viel günstiger und adäquater, Sie hätten einen entsprechenden Beirat, der sich zusammensetzt aus Wissenschaftlern und aus Politikern, die dann sagen, wo sind Schwerpunkte, was müssen wir machen, und wie müssen wir im Grunde uns aufstellen, damit wir die Zukunft gewinnen können. Und das sind alles Sachen, die wir in diesem Papier, in diesem 60-Seiten-Papier dargestellt haben, wo wir glauben, dass wir da eine Richtung vorgegeben haben. Wir werden das ja noch fortführen und werden dann sozusagen Materialbände noch erarbeiten, die das dokumentieren, damit man das nachlesen kann.
Ich komme auf Ihre Frage zurück, dass – wenn man nur drei Seiten über Grüne Gentechnik schreibt, das nicht ausreichend ist, sondern dass man im Grunde mehr Informationen braucht, wenn man das nachlesen möchte.

Deutschlandradio Kultur: Vor anderthalb Jahren ist die Deutsche Akademie der Naturforscher in Halle – sie ist über 350 Jahre alt, hat 1.300 Mitglieder – Nationale Akademie der Wissenschaften geworden. Das, was wir jetzt besprochen haben an Studien und Stellungnahmen, wird ja eigentlich nicht in bestimmten Instituten der Akademie geleistet, sondern von 1.300 Wissenschaftlern – also eine virtuelle Veranstaltung.

Volker ter Meulen: Also, lassen Sie mich noch mal was zur Geschichte der Akademie sagen. Sie haben gesagt, wir sind nationale Akademie geworden. Wir waren schon mal Nationale Akademie der Wissenschaften. Wissen Sie das?

Deutschlandradio Kultur: Nein, weiß ich nicht.

Volker ter Meulen: Also, wir sind ja gegründet worden 1652 in Schweinfurth, nicht weit hier von Würzburg. Und bereits 1677 hat Kaiser Leopold I. die Leopoldina ernannt als Reichsakademie des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Und dieser Status als Reichsakademie ist äquivalent zur Nationalen Akademie. Und diesen Titel haben wir gehalten und diese Funktion haben wir auch wahrgenommen bis 1806 Napoleon Europa neu aufgeteilt hat. Also, wir waren schon mal was Besonderes.

Die Leopoldina hat eine ganz dicke Patina und hat alle Höhen und Tiefen der deutschen Geschichte durchlebt. Also, es ist eine Institution, die auch im Ausland hoch angesehen ist aufgrund der Tradition, weil im Ausland Traditionen natürlich immer noch angesehen werden. Jetzt zurück zu Ihrer Frage: Virtuell? 30 Prozent unserer Mitglieder kommen aus den nichtdeutschsprachigen Ländern. 70 Prozent kommen aus Deutschland, Schweiz und Österreich.

Das hängt damit zusammen mit unserer Geschichte. Und virtuell heißt ja nichts anderes, als dass man die Möglichkeit hat, sich die Kollegen herauszusuchen, die man benötigt. Und wir haben eben ein sehr großes nationales, auch internationales Netzwerk, das es uns ermöglicht, doch sehr schnell die Kompetenz herbeizuholen und zu erbitten, die wir brauchen für unsere Stellungnahmen.

Deutschlandradio Kultur: Herr Professor ter Meulen, wir danken für das Gespräch.

Volker ter Meulen: Gerne.