VIP-Tickets im Musikgeschäft

Ein Riss geht durchs Konzertpublikum

Die Rolling Stones bei einem Auftritt in Kuba im März 2016.
Bis zu rund 1300 Euro kostet ein Sonderticket bei den Rolling Stones – ein Platz in der ersten Reihe ist dann sicher. © imago/Agencia EFE
Musikredakteur Dennis Pohl im Gespräch mit Andreas Müller · 22.06.2018
Es gibt noch Karten für die Rolling Stones im Berliner Olympiastadion – die teils sündhaft teuren sogenannten Special Tickets sind allerdings schon weg. Wenn Pop Spiegel gesellschaftlicher Entwicklungen ist, was sagt das dann über unsere Gesellschaft?
Andreas Müller: Heute Abend sind die Rolling Stones zu Gast im Berliner Olympiastadion und das Konzert ist wider Erwarten noch nicht vollständig ausverkauft. Nur in einer Kategorie ist nichts mehr zu holen: Bei den sogenannten Special Tickets. Was hat es damit auf sich?
Dennis Pohl: Grundsätzlich sind das Tickets, die ein "ultra-exklusives Konzerterlebnis" versprechen, um einen großen Konzertkartenverkäufer zu zitieren. Das klingt natürlich begehrenswert. Ich würde jedoch bezweifeln, dass man die Inhaber solcher Karten wirklich beneiden muss. Denn wenn man die gebotenen Leistungen mit exorbitanten Preisen vergleicht, scheint es vielmehr um den Anschein von Exklusivität für Besserverdiener zu gehen.
Das grenzt teilweise schon ans Absurde: Heute Abend darf man bei den Rolling Stones beispielsweise für rund 1300 Euro ein paar Stunden früher als der Rest ins Stadion, bekommt einen netten Kunstdruck, ein paar nicht näher definierte Reiseutensilien und darf in den ersten Reihen stehen. Ach ja, es gibt auch noch die Möglichkeit zum entspannten Shopping. Kein Witz! Kein Wunder also, dass Rock 'n' Roll als tot gilt.
Müller: Dabei klingen die sechs Spezialkategorien allesamt nach Aufruhr und wilden Zeiten. Es gibt Tickets namens "Start Me Up", "Jumpin’ Jack Flash" oder "Gimme Shelter".
Pohl: Die zwischen 1300 und 450 Euro kosten, ja. Am absurdesten finde ich aber, dass die zweitteuerste Kategorie dieser exklusiven Tickets "Brown Sugar" heißt, also ein sündhaft teures Ticket nach einem Song benannt ist, in dem es sehr prominent um Sklaverei, Heroin, dreckigen Sex und Sadomasochismus geht. Das wäre fast schon witzig, wenn die Kommerzialisierung einstiger Widerstandskulturen nicht so traurig wäre.

Jeder größere Act hat mittlerweile Sondertickets im Angebot

Müller: Nun sind die Rolling Stones schon lange nicht mehr bloß einfach eine Band, sondern vielmehr ein gut laufendes globales Unternehmen. Gibt es denn auch andernorts Beispiele für solche VIP-Tickets?
Pohl: Natürlich beschränkt sich das nicht nur auf die Rolling Stones, so ziemlich jeder größere Act hat mittlerweile solche Sondertickets im Angebot, egal, ob das jetzt Mark Forster, Shakira oder Beyoncé und Jaz-Z ist. Und übrigens auch jedes größere Festival, oft zusammen mit Möglichkeiten zum luxuriösen Camping auf eigenen Plätzen, privaten Duschen und WLAN-Anschluss. Und natürlich einem abgeriegelten Bereich auf dem Festivalgelände mit unverstellter Sicht.
Das Bemerkenswerte ist, dass solche Angebote offensichtlich blendend ankommen. Nehmen wir als Beispiel einmal das dänische Roskilde-Festival, eines der wohl größten und beliebtesten Festivals Europas, das Anfang Juli in Dänemark stattfindet. Normale Tickets sind weiterhin zu haben, sämtliche VIP- und Spezialvarianten hingegen ausverkauft.
Müller: Was glauben Sie, woran das liegt?
Pohl: Das ist schwer zu sagen und sicherlich eine Kombination vieler Faktoren. Einmal womöglich schlicht, weil es das Angebot gibt. Im Laufe der Neunziger fiel Konzertveranstaltern auf, dass die besten Plätze verlässlich innerhalb weniger Stunden auf dem Schwarzmarkt feilgeboten wurden – für das Doppelte oder Dreifache. Die Lösung: Warum streichen wir diesen Gewinn nicht selbst ein, indem wir sie gleich teurer anbieten?
Andererseits werden Konzert- und Festivalgänger selbstverständlich auch älter, da will man etwas für sein Geld, bequem schlafen, nicht stinken und einen schönen Winkel für das Erinnerungsfoto. Das ist ja auch okay, wenn auch ein bisschen spießig. Und man kann grundsätzlich ja auch nachvollziehen, dass man als Fan seinen Idolen so nahe wie möglich kommen will, was diese Tickets eben auch ermöglichen. Dafür sind viele auch bereit, mehr Geld zu zahlen.
Trotzdem erzählt der Trend zu Sondertickets auch etwas über unsere Gesellschaft – und das ist nicht ungefährlich, wenn Sie mich fragen.
Müller: Was meinen Sie damit konkret?
Pohl: Pop war immer ein ziemlich radikaler Gleichmacher, vor allem live. Egal welchen Hintergrund man hatte, man schwitze, sang, tanzte, trank und stank gemeinsam. Dieses egalitäre Narrativ scheint zumindest bei größeren Veranstaltungen vorbei zu sein und der Erfolg von VIP- und Spezialtickets untermauert diese These.
Denn was dahinter steckt, ist ja eindeutig: Besser gestellte Personen können sich einen besseren Zugang erkaufen. Das ist natürlich ihr gutes Recht und bei der Klassik oder im Theater völlig normal, aber im Massenphänomen Pop eben wieder eine andere Sache. Aber wie ich schon sagte: Pop spiegelt gesellschaftliche Entwicklungen immer sehr genau und Zusammenhalt sowie Ideen von Gleichheit sind da gerade offenbar nicht sonderlich in Mode.

Scheinargumente für teure Tickets der Veranstalter

Müller: Größere Festivals, wie etwa das amerikanische Coachella-Festival, rechtfertigten die Flut an teuren Sondertickets in der Vergangenheit immer wieder damit, dass durch das so eingenommene Geld die Existenz der Veranstaltung gesichert werden könne – und die restlichen Tickets erschwinglich blieben. Sind da ein paar abgegrenzte VIP-Bereiche nicht ein vergleichsweise geringes Übel?
Pohl: Ja, diese Argumentation hört man immer wieder. Meiner Meinung nach ist das aber ein Scheinargument. Zwar kenne ich die Finanzen der einzelnen Veranstalter nicht, aber wenn man sich öffentlich zugängliche Zahlen ansieht, sieht es nicht danach aus als müsste da etwas gerettet werden.
Laut dem US-Magazin "Billboard" hat sich beispielsweise zwischen 1996 und 2015 die Anzahl verkaufter Konzerttickets verdoppelt. Und der Umsatz hat sich dabei versechsfacht. Und es ist ja auch nicht als wären die restlichen Tickets billig. Ein Stehplatz auf der Tribüne kostet bei den Stones heute Abend mehr als ein Monatsticket für Bus und Bahn in Berlin.
Müller: Sie sprachen eben von Pop als gesellschaftlichem Indikator. Mal umgekehrt gefragt: Was bedeutet die Entwicklung für Pop als Kunstform?
Pohl: Da muss man unterscheiden und nicht unnötig dramatisieren. Es gibt weiterhin jede Menge guter Konzerte, zu denen jeder Zugang hat, weil sie erschwinglich sind. Und bei denen es kein Klassensystem gibt.
Etwas pointiert könnte man jedoch sagen, dass sich Pop zumindest im Mainstream mit solchen Tendenzen langfristig seines Kerns beraubt. Oder besser gesagt seines Mythos. Denn am Ende machten doch genau jene diese Musik zur einflussreichsten Kunstform der Gegenwart, die sich jetzt kein Ticket mehr leisten können oder, wenn doch, hinter Reihen von irrsinnig teuren Plätzen in der letzten Ecke stehen müssen: die Unterprivilegierten, die Jungen, die Freaks.
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